Auch dass der Veteran stilistisch elastisch bleibt, zwischendrin hochgelobte Jazz-Alben veröffentlicht (wie kürzlich die Sinatra-Hommage "That's Life") und dazu an jede einzelne Veröffentlichung einen extrem hohen Qualitätsmaßstab anlegt, ist mehr als erstaunlich.
"A Beautiful Time" - ein schönes Album
Deshalb darf man auch an Studio-Solo-Album Nummer 72, "A Beautiful Time", hohe Erwartungen knüpfen - und wird natürlich nicht enttäuscht. Wie auch? Willie Nelson ist ein Künstler, der in seiner eigenen Liga spielt, umgeben von einer perfekt eingespielten und harmonierenden Mannschaft aus exzellenten Virtuosen. Mit dabei sind auch auf diesem Album sein langjähriger Produzent und Co-Autor Buddy Cannon, Musiker wie Mundharmonika-Ass Mickey Raphael und Organist Jim "Moose" Brown sowie - die darf nicht fehlen - seine heißgeliebte "Trigger"-Gitarre.
Mit diesem Gespann darf man höchste traditionelle Country-Kunst erwarten. Aber auch Überraschungen? Selbstverständlich! Dafür ist Willie Nelson immer gut. Man nehme nur den Opener "I Love You Till The Day I Die". Die herzerweichende, mit einer gewissen morbiden Note versehene Liebesballade haben schließlich keine Geringeren als Chris Stapleton und Rodney Crowell geschrieben. Zwei Legenden aus zwei verschiedenen Generationen ziehen bei diesem Country-Rührstück an einem Strang - das Willie Nelson natürlich in unvergleichlicher Manier emotional interpretiert. Ganz klar: wenn es um Herz-Schmerz geht, kommt man an Willie Nelson auch im Greisenalter nicht vorbei.
Doch was heißt schon "Greisenalter"? Musik ist schließlich ein Medium, das sich von so banalen Dingen wie Alter und Herkunft frei macht. Sie berührt einen - oder eben nicht. Und Willie Nelson schafft es auch auf "A Beautiful Time", eine Saite beim Hörer zum Schwingen zu bringen. Sie lässt einen nicht kalt. Ganz im Gegenteil. Nehmen wir nur das von Nelson und Cannon geschriebene "My Heart Was A Dancer" in das die beiden gleichermaßen klingende Unbeschwertheit und nostalgischen Wehmut packen. Es ist nicht der einzige Song-Rückblick auf dem Album. Auch der von Shawn Camp geschriebene Titelsong und das so schwermütige wie gefühlvolle "Dusty Bottles" betrachten das Leben im Rückspiegel.
Willie Nelson spielt in seiner eigenen Liga
In weiteren Tracks philosophiert der Country-Haudegen über die Liebe ("Me and My Partner", "Leave You with a Smile"), das Leben ("Dreamin' Again", "Live Every Day") und den Tod ("I Don't Go to Funerals"). Wer bei letzterem Song düstere Grabesstimmung erwartet, wird positiv enttäuscht: der ebenfalls vom Gespann Nelson & Cannon geschriebene Track gehört zu den flotteren und fröhlicheren der CD. Ja, er feiert das Leben!
Zu den weiteren Überraschungen von "A Beautiful Time" gehören seine beide Cover-Versionen: "Tower of Song", ein düsteres Leonard Cohen-Original, das Nelson & Co. in Cowboy-Boots stecken; sowie das mit viel Mundharmonika und Drei-Viertel-Takt auf Lagerfeuer-Hymne getrimmte "With a Little Help From My Friends" aus dem Beatles-Katalog. So etwas kann schief gehen. Aber nicht bei einem Musiker wie dem ewig jungen Oldtimer Willie Nelson.
Fazit: Macht sich selbst sein schönstes Geburtstagsgeschenk: Willie Nelson mit seinem neuen Album "A Beautiful Time". Im traditionellen Country ist der Altstar immer noch der Maßstab.