Diese Randerscheinung ist ein weiterer Beleg für den Tiefgang und das Charisma von Emmylou Harris. Und gleichzeitig ein Erklärungsversuch, warum sie heute diese Ausnahmeposition in der Country- und Folkgemeinde inne hat: die ungekrönte Königin, die Ikone, die weiche Autorität, die unbeugsame Verfechterin für Qualität und Rootsmusik. 61 Jahre ist sie mittlerweile alt. Ihr wallendes Haar längst ergraut, die Stimme, noch nie so richtig glockenklar, aber heute brüchig und zerbrechlich, und dennoch kraftvoll und imposant. All das wirft sie für ihre neue/alte Standortbestimmung "All I Intended to Be" in die Waagschale. Und noch viel, viel mehr...
Mit dem ersten Song nimmt sie den Faden ihrer Zusammenarbeit mit Mark Knopfler von 2006 auf. "Shores Of White Sand", ein aus den 80ern stammender Titel aus der Feder von Karen Brooks (die hier als Gastsängerin in Erscheinung tritt), verknüpft kunstvoll Folk mit Rock und Country. Ein gemächlich, dennoch energisch schiebender Dreivierteltakt, mit einem tief wummernden Bassfundament. Wer sich an die Worldmusic-Klänge von Sting auf dem Album "Brand New Day" (1999) erinnern kann, bekommt vom Sound eine Vorstellung. Melodiös geht es aber freilich in eine andere Richtung. Von der Interpretation ganz zu schweigen...
Emmylou Harris gibt sich auf diesem Album zu keinem Takt Mühe, ihre in höheren Lagen mittlerweile aus- und abbrechende Stimme zu kaschieren. Nein, sie macht aus der Not eine Tugend und schafft sich so - wie schon seit vielen Alben - einen akustischen Fingerabdruck. So mag es zwar Sängerinnen mit größerem Volumen und Stimmumfang geben - doch keine andere, singt wie sie. Ein absolutes Original.
Auch im zweiten Song verweist sie diskret auf ihre zuletzt rockigeren Erfahrungen. "Hold On" heißt der Folksong, und wieder sorgen wummernde Bässe für einen hübschen Kontrast zum filigran gewebten Arrangement. Daniel Lanois, einer ihrer einstigen Wegbegleiter, ist für diese Klänge eigentlich bekannt. Dennoch ist nicht er der Soundbastler, sondern Brian Ahern, mit dem E.H. bereits Mitte und Ende der 70er Jahre erfolgreich zusammen gearbeitet hat ("Pieces Of The Sky", "Elite Hotel", "Blue Kentucky Girl").
Mit dem dritten Titel, "Moon Song", im Original von Patty Griffins, schlägt die legendäre Sängerin auf dem Album einen wesentlich traditionelleren Kurs ein. Statt Bass und E-Gitarre bestimmen Fiddle und Akkordeon das Geschehen - und so bleibt es auch in den meisten der folgenden Titel.
Wie immer ist ihr auch auf dieser CD eine glückliche Mischung aus eigenen Songs - wie "Gold" und "Not Enough" - und Fremdkompositionen gelungen. Herausragend ihre Interpretation des Billy Joe Shaver-Songs "Old Five And Dimers" und Merle Haggards "Kern River". Dass die 12-fache Grammy-Gewinnerin stets gerne in artverwandten Genres wildert, belegt sie mit ihrer einfühlvollen Version des Tracy Chapman-Klassikers "All That You Have Is Your Soul". Kaum jemand weiß dies vermutlich besser, als die große, seelenvolle Emmylou Harris.
Fazit: Mit brüchiger Stimme singt sich die große Dame der Country- und Folkmusik auf zu neuen Qualitätshöhen. Sie ist einfach eine Klasse für sich.
Label: Nonesuch (Warner) | VÖ: 13. Juni 2008 |
Titelliste
Links
01 | Shores of White Sand | 08 | Take That Ride | ||
02 | Hold On | 09 | Old Five and Dimers Like Me | ||
03 | Moon Song | 10 | Kern River | ||
04 | Broken Man's Lament | 11 | Not Enough | ||
05 | Gold | 12 | Sailing Round the Room | ||
06 | How She Could Sing the Wildwood Flower | 13 | Beyond the Great Divide | ||
07 | All That You Have is Your Soul |
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