Hört man die ersten Takte von "Hold On To It" fühlt man sich jedenfalls sehr schnell zurückversetzt in die Zeit der 90er und frühen 2000er Jahre. Es ist ja wie früher: Eine Gitarre spielt ein schönes, melodisches Uptempo-Riff, im Hintergrund wummert eine Orgel, nach vier Takten setzt ein rockiger, aber auch federleichter Groove ein, dann: Pedal Steel und Banjo. Es ist angerichtet für jene Stimme, für Tim McGraw der nach einer knappen halben Minute die Musik mit Leben und Gefühl füllt.
Tim McGraw: in vielerlei Hinsicht ein Ausnahmekünstler in Nashville
Es mag - oberflächlich betrachtet - gar nichts Außergewöhnliches an diesen Klängen sein. Die Harmonieverbindungen sind gefällig, die Instrumentierung solide, das Arrangement wie von Tausenden anderen Country-Rock-Songs. Dennoch besitzt Tim McGraw so etwas wie einen Trademark-Sound. Ein akustisches Markenzeichen, das sich schlecht erklären lässt. Es ist eine Sache des Gefühls.
Das war schon früher so - und so ist es auch mit "Standing Room Only". So sieht das auch der Künstler selbst: Die neuen Songs gehörten zum "emotionalsten", was er jemals aufgenommen habe. Songs, die, so der Meister himself, "zum Nachdenken anregen" und die durch-die-Bank "lebensbejahend" sein sollen. Ein hoher Anspruch an das Album, der ihn auch lange beschäftigte. Seit 2020 habe er an dem Album gearbeitet, natürlich wieder mit seinem All-time-Produzenten Byron Gallimore plus einigen der größten Nashville-Songwriter.
Für den Titeltrack, ein nostalgisch anmutender, schon fast an Glen Campbell erinnernder Song, hat er sich beispielsweise mal wieder mit Craig Wiseman zusammengetan. Mit ihm entstanden bekanntermaßen zeitlos-schimmernde Songperlen wie "Live Like You Were Dying" aus dem Jahr 2004 - Songs, die gleichzeitig Leichtigkeit und Tiefgang auszeichnen. Für Tim McGraw scheint das ohnehin die künstlerische Ausrichtung zu sein. Titel wie das erneut nostalgische, in typischer George Strait-Manier angelegte "Paper Umbrellas oder die von u.a. Brad und Brett Warren geschriebene Balladen "Fool Me Again" und "Hey Whiskey" oder das melancholisch-rockende, von Jaren Johnston, Jenn Schott und Jeremy Stover komponierte "Small Town King" lassen sich alle exzellent "so nebenbei" hören. Wer aber genauer auf die Inhalte hört, bekommt schlaue Texte und exquisites Storytelling on top geboten.
Lebensbejahende Songs, liberale Message: "Standing Room Only"
Der sicher kontroverseste Song des Albums ist "Her". In dem von Jason Gantt, Tim Nichols und Yeary geschriebenen Track geht es - ganz dem Zeitgeist entsprechend - um einen Jungen, der sich als Mädchen fühlt. LGBT in Nashville! Man mag Tim McGraw mit diesem provokanten Lied Berechnung vorhalten: Dass er eine Strömung bedient und damit nur öffentlich-wirksamen Diskussionsstoff anbieten möchte. Doch Tim McGraw war zum einen schon immer ein Künstler, der auch vor heiklen Themen nicht kehrtmachte (zum Beispiel "Red Ragtop" in dem es um Abtreibung geht). Zum anderen ist es eine Wohltat, gerade jetzt eine liberale, weltoffene Stimme aus Nashville zu hören. In Zeiten, in denen Kid Rock auf eine Palette "Bud Light" mit dem Schnellfeuergewehr ballern, nur weil der Bierbrauer mit einem queeren Influencer eine Social-Media-Kampagne gemacht hat. Die Country Music ist viel zu wertvoll, sie hirnlosen Rednecks zu überlassen. So sieht das offenbar auch Tim McGraw.
Ob er mit diesem Toleranz predigenden Song etwas bewirken kann? Schwer zu sagen. Er hofft es bestimmt - und glaubt es vielleicht sogar. Jedenfalls serviert er gegen Ende des Albums den Track "Some Songs Change Your World". Ein pathetisch angelegtes Liebeslied an die Musik, an die Macht der Musik. Schön, gefühlvoll und durchaus ergreifend. Nicht weniger gelungen fällt auch "Nashville CA/L.A. Tennessee" aus. Ein Track, der zwei Besonderheiten bietet: Zum einen teilt er sich das Mikro mit der renommierten Co-Autorin Lori McKenna, zum anderen war hier unser charismatischer Sänger selbst als Songschreiber tätig - eine Seltenheit in seiner künstlerischen Laufbahn. Wer die wunderschöne Country-Folk-Ballade hört, kann ihn nur weiter zum Songschreiben ermuntern.
Fazit: Tim McGraw setzt bei "Standing Room Only" musikalisch ganz auf den Sound der 90er und frühen 2000er Jahre - inhaltlich ist ihm kein Thema zu heiß. Kurzum: der beste Tim McGraw seit vielen Jahren.
Label: Big Machine (Universal) | VÖ: 25. August 2023 |
Disk 1 | |
01 | Hold on to It |
02 | Standing Room Only |
03 | Paper Umbrellas |
04 | Remember Me Well |
05 | Hey Whiskey |
06 | Her |
07 | Fool Me Again |
08 | Small Town King |
09 | Beautiful Hurricane |
10 | Cowboy Junkie |
11 | Nashville CA / L.A. Tennessee (mit Lori McKenna) |
12 | Some Songs Change Your World |
13 | Letter from Heaven |