Was hat sich geändert? Wie ist die CD angelegt? Alles anders - oder setzt der Mann mit dem schwarzen Hut und dem markanten Kinnbart weiter auf sein bewährtes Erfolgsrezept: dem typischen Mix aus Country, Rock, Balladen und mancher Überraschung?
"Here on Earth" ist Tim McGraws Comeback-Album bei Big Machine
Nun ja. Ein Blick auf die Creditlist deutet an, dass Tim McGraw auf "Here on Earth" das Country-Rad nicht gleich neu erfinden will. Schließlich vertraut er erneut auf seinen Haus- und Hof-Produzenten Byron Gallimore. Ein radikaler Cut im Sound-Konzept ist schon alleine deshalb kaum zu erwarten. Umso überraschter ist man, hört man die ersten Takte des Openers "L.A.": Geigen, Resonator-Gitarre, sanfter Groove und eine Melodie, die einen in die 70er Jahre, in die große Zeit des Glen Campbells entführt. Keine Frage, der von Carlton Anderson, Shane Minor und Phil O’Donnell geschriebene Song kann nur als Referenz an die 2017 verstorbene Ikone verstanden werden. Sound, Stimmung und Arrangement sind vollständig auf Campbells-Rhinestone-Cowboy-Ära getrimmt - auf eine Zeit, in der Country-Romantik und Easy-Listening-Pop einen gemeinsamen Nenner fanden.
Dass der CD-Auftakt allerdings nicht als Stilkompass taugt, zeigt sich bereits im zweiten Track "Chevy Spaceship". Der von Johnny Price im Alleingang geschriebene Song macht seinem Titel alle Ehre: ein spaciger Track, rockig, bombastisch, irgendwo zwischen Elton Johns "Rocket Man" und Aerosmiths "I Don't Want to Miss A Thing" verortet – und damit die perfekte Einstimmung auf den monumentalen Titeltrack. "Here on Earth" spielt das Leben - mal spielt es verrückt, mal ist es geradezu normal und geordnet. Es ist bunt und voller Überraschungen, so heißt es in dem Song. Wer in der Jon Nite-, Chase McGill- und Jessie Jo Dillon-Komposition in der ersten Strophe das Wort "Corona" heraushört, sollte sich übrigens nicht auf eine falsche Fährte locken lassen: Tim McGraw zitiert hier das mexikanische Kaltgetränk und nicht den Virus.
In dem mit keltischen Elementen (darunter ein Dudelsack) aufgeladenen Song erinnert Tim McGraw an U2. Das liegt auch an dem synkopierten, von Toto-Drummer Shannon Forrest meisterhaft eingespielten Tom-Tom-Groove. Diese dynamische, für Stadion-Konzerte bestens geeignete Rhythmik hat im Country eigentlich keine Tradition, dennoch erfreut sie sich in Nashville gerade großer Beliebtheit. Offenbar sind auch McGraw und Gallimore Fans dieses Grooves, da er auch beim nachfolgenden "Damn Sure Do" zum Einsatz kommt. Fiddle, Pedal Steel und ein rockendes Gitarren-Solo von LA-Session-Mann Michael Landau sorgen bei dem ruhigen und nachdenklichen Track für ein interessantes Crossover.
Tim McGraw blickt sorgenvoll auf Mutter Erde
Hochinteressant und gleichzeitig ein typischer Tim McGraw-Song ist das nachfolgende "Hallelujaville". Die von Tom Douglas, Blake Griffin und Brett Taylor geschriebene Ballade wartet mit einem mystischen, zwischen den Zeilen politisch kritischen Text und berührenden Melodien auf.
Natürlich muss zwischendrin auch mal Entspannung und Frohsinn sein. Dafür sorgen das augenzwinkernde "Good Taste in Women" oder das leichtfüßige, akustisch gehaltene "Doggone". Alleine: Sie bilden die Ausnahme.
Der Schwerpunkt der CD liegt eindeutig in schwerblütigen, tief gehenden, und nachdenklichen Titeln, wie "Sheryl Crow" (keine Hymne an die Sängerin, sondern ein Rückblick, als er sie zum ersten Mal im Radio hörte), "If I Was a Countryboy", "Gravy", "7500 OBO", oder - was für Titel! - "War of Art". In letzterem Song (aus der Feder von Lance Miller, Brett und Brad Warren sowie Jeremy Spellman) liefert Tim McGraw gleich in der ersten Textzeile die Erklärung für seine Karriere: "I don't do it for the money". Nun ja, mit rund 60 Millionen verkaufter Tonträger lässt sich das freilich leicht sagen.
Als Single-Vorbote schickte man bereits Anfang Mai den Titel "I Called Mama" ins Hit-Rennen: So richtig zünden wollte der vielleicht etwas zu biedere Song aber nicht - mehr als Platz 22 in den US Country-Charts sprang nicht heraus. Wer weiß, vielleicht hätte "Not From California" besser abgeschnitten? Die wuchtige, mit herrlichen Beatles-Harmonien ausgestattete Gänsehaut-Ballade haben Levi und Marcus Hummon, Brad und Brett Warren sowie Matt McVanney meisterhaft komponiert - und die erlesene Session-Crew nicht minder musikalisch umgesetzt. Ein Song, so erhebend wie ein Sonnenaufgang.
Fazit: Mit "Here on Earth" kehrt Tim McGraw zum Big Machine-Label zurück. Ein starkes, aber auch nachdenkliches Comeback mit etlichen tollen Songs – und mit 16 Tracks üppig bestückt.
Label: Big Machine (Universal) | VÖ: 21. August 2020 |
01 | L.A. |
02 | Chevy Spaceship |
03 | Here on Earth |
04 | Damn Sure Do |
05 | Hallelujahville |
06 | Good Taste in Women |
07 | Hard to Stay Mad At |
08 | Sheryl Crow |
09 | Not from California |
10 | Hold You Tonight |
11 | 7500 OBO |
12 | If I Was a Cowboy |
13 | I Called Mama |
14 | Gravy |
15 | War of Art |
16 | Doggone |