"Starting Over" - der perfekte Soundtrack für diese Zeit
Dabei sprengte Chris Stapleton schon auf seinen drei bisher erschienen Alben jeden musikalischen Rahmen. Country? Ja klar! Roots- und Heartland-Rock? Aber sicher. Genau wie Blues und Folk. Doch das eigentlich irritierende an seinem Sound ist sein inbrünstiger, an Soul-Legenden wie Otis Reding und Wilson Picket denken lassender Gesang. Ein Klang, der so viel auszudrücken vermag. Der von harten Zeiten, vielleicht sogar von Elend berichten kann, der aber auch mit magischen Tönen verzaubern und träumen lässt. Kein Wunder, dass Chris Stapleton seit Jahren das beste Pferd im Country-Stall von Nashville ist - und dass sich alles um ihn reißt.
Nach "Starting Over" dürfte die Nachfrage kaum weniger werden. Eher im Gegenteil. Denn das erneut von Stamm-Produzent Dave Cobb meisterhaft arrangierte Album zeigt Chris Stapleton vielleicht sogar auf der Höhe seiner Kunst. Nein, er hat die drei Jahre Album-Pause nicht nur zum Ruhm-Auskosten und Star-Gast-Spielen verwendet. Er hat, das steht nach den 14 Tracks von "Starting Over" fest, auch weiter an großartigem Songmaterial gefeilt. Dass er dabei nicht den Verlockungen der Überproduktion oder gewagter musikalischer Experimente verfiel, weist ihn als gereiften, charakterstarken Star aus. Er weiß, was er will. Zum Beispiel: von einem Neuanfang träumen.
Mit dem Titeltrack "Starting Over" eröffnet Stapleton das Album. Ein eigentlich recht unaufgeregter Folk-Song, mit akustischen Instrumenten; eine Westerngitarre gibt die Tonlage vor. Später gesellt sich die wummernde Orgel von Benmont Tench (Tom Petty And The Heartbreakers) dazu. Chris Stapleton begrüßt den Hörer mit der rau, soulig und leicht knarzig gesungenen Songzeile "Well, the road rolls out like a welcome mat. To a better place than the one we're at". Die Straße soll ihn, soll uns, an einen besseren Ort führen. Ein Traum, der mit der Wahl von Joe Biden zum neuen US-Präsidenten vielleicht sogar wahr werden könnte. Doch keine Sorge, liebe Leser. Chris Stapleton ist jetzt nicht zum Woody Guthrie des 21. Jahrhunderts mutiert. Er ist auch nach wie vor kein politischer Protestsänger, aber er hat ein Anliegen. Und nimmt dafür kein Blatt vor den Mund.
Chris Stapleton hat die Schnauze voll
Stapleton hat, darüber besteht kein Zweifel, von so manchem die Schnauze voll. Von den Predigern, die predigen; von Politikern, die politisieren und polemisieren; vom Mainstream-gepolten Banal-Radio und vom Kommerz-TV. Gegen all das singt er in dem quirligen Country-Rock 'n' Roll "Worry B Gone" an - mit Hingabe und unüberhörbarer Wut im stattlichen Bauch. Es gibt für ihn offenbar einiges aufzuarbeiten. Wunden, die nicht verheilt sind.
Eine davon artikuliert sich in dem brachialen, sehr düsteren, gegen Ende geradezu apokalyptischen Track "Watch You Burn". In dem Song verarbeitet Stapleton das Massaker in Las Vegas, bei dem 2017 ein durchgeknallter Waffennarr bei einem Country-Festival 58 Menschen erschoss. Das ist harter Tobak. Und was Stapleton in dem dunkelgrau gefärbten Country-Rock an Zorn, an Hass, an Verzweiflung und Fassungslosigkeit ausdrückt, kann niemanden kalt lassen. Je länger der Song geht, desto infernaler wird er. Gegen Ende gesellt sich zu den ohnehin schon hoch aufgetürmten Klangkaskaden noch ein gruselig-schöner Chor dazu. Nach vier Minuten und drei Sekunden dann ganz abrupt: Stille. Ende. Gänsehaut.
Zwischen diesen beiden Titeln bietet der Song "Old Friends" eine willkommene Verschnaufpause. Ein ruhiger, Track, der mit seiner, an Lou Reeds "Walk On The Wild Side" erinnernden Bassfigur, vom Wert einer tiefen Freundschaft berichtet. Dass seine Frau Megan, die gerade erste ihr fünftes gemeinsames Kind zu Welt brachte, hier eine größere Background-Vocals-Rolle übernimmt, ist natürlich kein Zufall. Die beiden sind schließlich so etwas, wie Johnny und June des 21. Jahrhunderts. Wie bedingungslos und ehrlich die Liebe der beiden ist, zeigt sich auch in dem wunderschönen, extrem sparsam arrangierten Country-Love-Song "Joy of My Life".
Chris Stapleton ist mit "Starting Over" am Höhepunkt seiner Kunst
Ein weiteres Highlight der CD setzt ein Song, in dem Chris Stapleton für seine Soul-Stimme auch die entsprechenden Harmonien und das passende Arrangement auffährt: "Cold" heißt der Song. Völlig zu Unrecht, denn es ist ein dampfendheißer, ganz im Vintage-Gewand gekleideter Soul-Knaller. Langsam, schwülstig, gefühlvoll. Mit Geigen, hymnischen Akkorden, einem großartigen Gitarren-Solo und - das Highlight des Highlights - einer Vocal-Performance, für die man ihm sofort alle Awards dieser Welt überreichen sollte. Fantastisch ist noch untertrieben.
Doch Stapleton ist aber natürlich ein Profi. Er weiß, dass er dosieren muss, dass es im Verlauf eines 14 Tracks langen Albums auch mal geruhsamer und weniger aufwühlend zugehen muss - mit halbwegs simplen Tracks, mit kleinen, weniger aufpolierten Song-Perlen. Also mit Titeln wie dem an Willie Nelson erinnernden Country-Slow-Blues "When I'm With You", das an die Byrds gemahnende "Maggie's Song" oder mit "Nashville", dem wunderschönen, dennoch ziemlich desillusionierten Abgesang auf Music City USA, bei dem Paul Franklin herrliche Pedal-Steel-Linien beisteuert.
Dass Stapleton längst auf dem Weg ist, der Springsteen der Country-Music zu werden zeigt sich in ein paar Heartland-Rock-Songs. In Titeln wie dem bluesigen Southern-Rocker "Devil Always Made Me Think Twice" oder dem Riff-Monster "Arkansas": So viel Wucht, so viel Power! Wer hier an die guten, alten CCR denkt, liegt nicht falsch.
Fazit: Chris Stapleton beweist mit seinem vierten Album "Starting Over", dass er in Nashville in einer Klasse für sich spielt: keiner kann Country-Rock besser und keiner hat mehr Soul in der Stimme, als der singende Bär aus Kentucky.