Keine Frage, der Mann ist ein Naturereignis. Die ganzen Lobeshymnen, die auf den 1978 in Lexington geborenen Künstler seit seinem 2015 veröffentlichten Debüt-Album "Traveller" einprasseln: völlig verdient. Genau wie all' seine Grammys und unzähligen Awards.
Chris Stapleton: Country-Star mit Soul in der Stimme
Sicher, Chris Stapleton wird als Country-Musiker geführt. Ist er auch. Dennoch liegt der Shouter stimmlich einer Soul-Legende wie Otis Redding deutlich näher als, sagen wir mal, Country-Heroen wie Johnny Cash, George Strait oder George Jones. Der Mann hat Soul im Blut und in der Stimme - und davon darf man sich auch auf seinem neuen, erneut von Dave Cobb meisterhaft produzierten Album "Higher" überzeugen.
Für den Einstieg aber hat er sich einen waschechten Country-Song zurechtgelegt. Nicht nur irgendeinen, sondern einen ziemlich perfekten Country-Song: "What Am I Gonna Do" heißt der Opener und der weist in gut drei Minuten alle Vorzüge dieser Stilrichtung auf: Storytelling, Feeling, instrumentale Fertigkeiten (man beachte das Gitarren-Solo), Stimmung. Alles top, alles zu 100 Prozent Country.
Im nächsten Track macht Stapleton gleich mal den stilistischen Schwenk zu seiner zweiten großen Liebe. Mit "South Dakota" präsentiert er einen ultracoolen, bluesigen, souligen Track mit aufreizend relaxtem Laidback-Groove und Keith Richards-typischen Gitarren-Riffs. So toll das Arrangement auch sein mag: für die Kirsche auf der Sahne sorgt Stapleton mit seiner fulminanten Stimme. Vor allem im hochgetunten Refrain geht so richtig die Post ab. Schon alleine diese zwei Tracks unterstreichen Stapletons Ausnahmestellung in Nashville.
Nach so viele Energie lässt es der wuchtige Sänger in den nächsten Songs aber erst mal etwas ruhiger angehen. "Trust" erweist sich als netter, unspektakulärer Love-Song im Folk-Kleidchen (mit im Background-Chor natürlich seine Gattin Morgane), "It Takes a Woman" überzeugt als romantische, sehr langsam angelegte Ballade und bei dem Folk-Rock-Song "The Fire" drückt Stapleton wieder etwas mehr auf die Dynamik-Tube.
Musikalisch spannender erweist sich aber glatt die zweite CD-Hälfte. Für die erste Überraschung sorgt beispielsweise (der weitere) Love-Song "Think I'm in Love with You". Für den Titel scheinen Stapleton und Produzent Cobb einige Experimente durchgeführt zu haben: funky Beats treffen auf originelle Breaks, Geigen und auf - ja, doch - Anleihen aus der Disco-Zeit. Natürlich ist da nicht Boney M. oder dergleichen als Referenz gemeint, sondern die Stones, als sie "Black and Blue" aufgenommen und ebenfalls intensiv mit dem Disco-Sound geflirtet haben. Chris Stapleton macht es jetzt, rund 47 Jahre später, ebenfalls.
Mit "Higher" wieder hoch hinaus: der nächste Chris Stapleton-Volltreffer
Als kleine Überraschung darf man auch "Loving You on my Mind" bezeichnen. Denn in diesem tiefenentspannten, mit sehr smoothen und dazu ausgeschlafenen Harmonien veredelten Song verströmt der Mann aus dem Bluegrass-Staat echtes West-Coast-Feeling: Eine Orgel brummt gemütlich eine hübsche Melodie und der Groove kommt auf leisen Pfoten. Wer den Track "Midnight on the Bay" von der Stills Young Band (ebenfalls Anno 1976) im Ohr hat, bekommt eine Vorstellung von diesem Song.
Nach so viel Müßiggang und Schmusekater-Sounds wird es freilich Zeit für einen ordentlichen Country-Rock. Mit "White Horse" lässt er auch schon einen von der Leine. Sehr würzig, sehr stark und temperamentvoll. Das gilt auch für den Heartland-Rocker "The Bottom", bei dem er natürlich an Mister Tom Petty erinnert. Für ein weiteres Highlight, das deutet ja auch schon der Name an, sorgt der Titeltrack. Und tatsächlich geht es bei "Higher" verdammt hoch hinaus. Stapleton singt hier so betörend schön mit Kopfstimme, dass jeder Soul-Brother eine Gänsehaut bekommen sollte. Dabei ist der Track mit Pedal Steel und Gitarrensolo recht eindeutig im Country angelegt.
Das gilt auch für die weiteren Songs: Das traurig-düstere "The Day I Die", "Crosswind" und das nachdenkliche "Weight of Your World" basieren ganz eindeutig auf den Wurzeln des Nashville-Sounds. Noch mehr gilt das für den letzten Song des Albums, für "Mountains of my Mind". Hier zeigt Stapleton, dass es eben wirklich nicht mehr als eine Gitarre und seine Stimme braucht, um seine Hörerschaft zu verzücken. Dazu singt er den Song so lässig und so souverän, dass man glatt an Johnny Cash denken könnte. Stimmlich trennen die beiden Welten, aber in Punkto Coolness und Aura sind sie längst Brüder im Geiste.
Fazit: Chris Stapleton spielt in Nashville in seiner eigenen Liga. Das bestätigt der fulminante Sänger auch mit seinem fünften Album "Higher" - bei dem erneut Dave Cobb meisterhaft Regie führte.