Eine Gangart, die irritierend sein kann. Man nehme nur mal den Opener "Right on Time". Ein Track, wie man ihn vielleicht von einer melancholisch aufgelegten Lady Gaga erwarten könnte. Großes Kino, jede Menge Theatralik, grandiose Stimme, die mal verhalten, mal in die höchsten Höhen entschwebt. Und dazu: viel, viel Klavier und - nach rund zwei Minuten - rabiate E-Gitarren-Akkorde. Dann wieder ein Break und ein kurzer Moment der Stille, bevor Brandi Carliles Naturereignis-Stimme diese Leere füllt. "Right on Time" ist nur gut drei Minuten lang. Dennoch schreitet die mittlerweile 40-jährige Künstlerin dabei gleich mehrere musikalische Terrains ab - und entzieht sich damit jeglicher stilistischen Zuordnung. Wer will, kann das opulente Sound-Gebräu Country- oder Folk-Oper nennen. Vielleicht aber reicht es auch, den Song als "Pop" zu bezeichnen. Ob so oder so - der große Auftritt ist ihr wieder mal gelungen.
Große Momente: "In These Silent Days"
Wundern muss einen das nicht. Immerhin ist die sechsfache Grammy-Gewinnerin so etwas wie das Supergirl Nashvilles: hoch gehandelte Songschreiberin, umschwärmte Sängerin, versierte Produzentin. Dazu kommt ihre Mitgliedschaft in der All-Star-Group "The Highwomen" und - man höre und staune - neuerdings macht sie sogar als Bestseller-Autorin ("Broken Horses") von sich reden. Die Arbeit an diesem Buch, in dem sie ihre eigene Geschichte aufarbeitete, inspirierte sie auch zu den zehn Songs von "In These Silent Days". Angeblich haben sich Brandi Carlile und ihre langjährigen Weggefährten, die Zwillinge Tim und Phil Hanseroth, gemeinsam in Quarantäne begeben. Nichts hat gestört. Keine Außeneinflüsse. Der Phantasie waren keine Grenzen gesetzt - und das hört man auch, wie schon der beschriebene Titelsong beweist.
Inhaltlich packt Brandi Carlile auf "In These Silent Days" wieder die Dinge des Lebens an. Kernfragen wie Glaube, Hoffnung, Akzeptanz, Verlust und Liebe. Wie es heißt, schimmern in diesem Klangkosmos auch Ikonen wie David Bowie, Freddie Mercury und ihre beiden größten Inspirationsquellen, Elton John und Joni Mitchell, durch. Brave Country-Kost ist da freilich nicht zu erwarten. Doch völlig abgefahren sind die Tracks nun auch wieder nicht. Meistens gilt sogar: ganz im Gegenteil. Man nehme nur den nostalgisch anmutenden Folk-Rock von "You And Me On The Rock", die leise, akustisch gehaltene Folk-Perle "This Time Tomorrow", das reduziert arrangierte, erneut ganz in der Tradition des Folk angesiedelte "When You're Wrong" oder das an rockige CSN&Y-Tage erinnernde "Broken Horses".
Brandi Carlile spielt in ihrer eigenen Liga
Meist durchweht die Titel eine rührend nostalgische Note. Ein Vintage-Sound, für den Produzent Dave Cobb und sein historisches RCA Studio A in Nashville bekannt sind. Oft genügt für diesen Retro-Touch ein einziges Instrument, wie beispielsweise ein Spinett, das urplötzlich bei "Stay Gentle" in den Klang-Mittelpunkt rückt und für barockhafte Momente sorgt.
Ganz old-fashioned und dazu opernhaft-opulent erweist sich auch die in drei dürren Worten trefflich zusammengefasste Typisierung der Menschheit: "Sinners, Saints and Fools". Ein bombastischer Track, bei dem zunächst Geigen und 60ies-Reminiszenzen, später ein infernales Chaos die Oberhand haben. Kein Song für das Country-Radio. Aber ein Track, bei dem sich - erneut - das genauere Hinhören lohnt.
Für den Höhepunkt des Albums sorgt aber ein anderer Titel. Die schonungslos ehrliche und dabei extrem hingebungsvolle Klavier-Ballade "Letter to My Past". Ein paar Akkorde, eine schöne Melodie und dazu diese Stimme. Mehr braucht es für eine Gänsehaut nicht.
Fazit: Brandi Carlile wird mit "In These Silent Days" ihrem Ausnahme-Status erneut gerecht: zehn erstaunliche Tracks mit Folk- und Vintage-Betonung. Stimmlich braucht sie ohnehin keine Konkurrenz zu fürchten.