Jennifer Nettles hatte schon immer eine Ader für Broadway-Melodien
Trotzdem ist es schon etwas befremdlich, das blonde Energiebündel aus Georgia im Opener "Wouldn't It Be Loverly" zu hören. So zu hören: Mit klimperndem Klavier, großem Streicherarrangement, zart gezupften Gitarrenseiten. Nun ja, der Song stammt, für alle die im Musical-Bereich nicht so bewandert sind, aus "My Fair Lady". Da geht es natürlich schon etwas gediegener und feierlicher zu. Doch: was die 46-Jährige aus diesem fast 60 Jahre alten Song-Stoff macht, ist aller Ehren wert. Souverän gleitet sie sich durch diese sehr komplexen Harmonien, phrasiert phantastisch und beweist in dem rhythmisch vertrackten Song ihre ganze Meisterschaft im Timing. So einen Song so zu singen, das gelingt nur den wenigsten. Erstaunlicherweise, und das ist alles andere als unangenehm, hält sich Jennifer Nettles mit ihrer meist überbordenden Gesangs-Power zurück. Sie dosiert. Sie geizt fast mit ihrem Wuchtbrummen-Temperament und baut so eine knisternde Spannung für den Hörer auf, denn der spürt: da könnte jederzeit mehr kommen.
Den vokalen Vulkanausbruch hebt sich die singende Hälfte des Super-Duos Sugarland für später auf. Nun ja, allzu lange lässt sie uns nicht warten. Schon im nächsten Broadway-Knaller - "Sit Down You're Rockin' The Boat" (aus "Guys and Dolls") - gibt die vielfach ausgezeichnete Sängerin ordentlich Zunder. Von saftloser Musical-Muffigkeit ist das Lied in dieser Version so weit entfernt, wie Cats-Erfinder Andrew Lloyd Webber von einem Gangster-Rap: Es swingt, es groovt, Bläsersätze blitzen auf, eine Gitarre lässt jazzige Licks aufleuchten. Es pulsiert also nach Kräften - und Jennifer Nettles gibt dem brodelnden Gebräu Halt und Fundament. Sie zeigt auch hier, dass sie eine Ausnahmesängerin ist und dass sie Musicals genauso draufhat, wie die Country-Literatur.
Kein Wunder übrigens: "Als Kind, das in einem Musiktheater aufgewachsen ist, fühlt sich dieses Album für mich wie eine Heimkehr an", hat sie über "Always Like New" gesagt. Sie habe jede Note genossen und es sei für sie aufregend gewesen, diese Klassiker des Musicals neu zu interpretieren und dabei neu zu entdecken. Auch für den Hörer ist das Album eine Art Entdeckungsreise. Man macht Bekanntschaft mit groß angelegten Melodien, mit pathetischen Songs, mit Liedern, die man irgendwie kennt, aber nicht so genau weiß von woher. Dass im Genre gerne alle Register bis zum Anschlag gezogen werden, zeigt sich freilich auch in diesen zehn Titeln. Man nehme nur "It All Fades Away". Hier dröhnt nicht nur ein Orchester in vollem Format - in dem Lied aus "The Bridges of Madison County" holt sich Jennifer Nettles mit Brandi Carlile dazu noch stimmliche Verstärkung. Gemeinsam holen sie aus diesem rührseligen Stück nicht weniger als das Maximum an Euphorie und Power. Puh, das ist selbst für den Hörer eine kleine Herausforderung.
Jedenfalls ist man froh, dass Nettles im nächsten Titel "There's A Sucker Born Ev'ry Minute" eine andere Gangart wählt. In dem Song mit unbestreitbarem Wahrheitsgehalt aus "Barnum" wird der Sound rustikaler: mit Banjo, flottem Zwei-Viertel-Rhythmus, quietschenden Fiddlen - eine knallige und dazu begeisternde Country-Revue-Nummer. Sehr unterhaltsam! Auch weil der Spaß bei der Aufnahme zu hören ist und weil große Sound-Geschütze nicht zum Einsatz kommen. Das gilt - mit Einschränkungen - auch für "Oh, What A Beautiful Mornin'" aus "Oklahoma!": ein Gospel im XXL-Format mit swingendem Piano, knurrender Orgel, Bläser, einem Wahnsinns-Chor und einer Jennifer Nettles als Hohe Priesterin dieser Song-Messe. Wow! Wer wissen möchte, was diese zierliche Person alles an Dezibel und Feeling aus ihren Stimmbändern holen kann, sollte hier reinhören. Es ist: umwerfend.
"Always Like New": weit mehr als gängige Musical-Kost
Sehr stark - und dabei gar nicht so "musical" wie man erwarten würde - geht es weiter. "Anyone Can Whistle" (aus dem gleichnamigen Musical) geht beispielsweise als fast schon konventioneller Folk-Song durch. Fast jedenfalls. Denn die Melodien die Nettles hier, nur von Akustik-Gitarre und Klavier begleitet, singt, sprengen jeden Folk-Rahmen. Keine Frage, ein Paradestück der CD. Gefolgt von einem weiteren! "You Will Be Found" (aus "Dear Evan Hansen") beginnt verhalten, schon fast andächtig. Eine Akustik-Gitarre, ihr leiser, flüsternder Gesang. So nach und nach steigert sich behutsam die Dynamik. Nach einer guten Minute (des über vierminütigen Tracks) geht es aber voll zur Sache. Da wird aus dem ätherischen Folk-Stück ein echter Country-Rock-Knaller, ganz im Stile von Sugarland. Große Klasse!
Das gilt auch für den Abschluss von Jennifer Nettles Flirt mit dem Broadway, für das wunderschöne "Tomorrow" aus "Annie". Nur ein Klavier, nur ein paar Akkorde, aber ganz viel Gefühl und eine Sängerin, die man nach dieser Performance am liebsten mit Preisen und Awards überhäufen möchte. Auch wenn Country nur eine unauffällige Farbe im Klangbild von "Always Like New" ausmacht: das Album kann begeistern.
Fazit: Eine Sängerin auf dem Zenith ihrer Kunst: Jennifer Nettles interpretiert auf "Always Like New" zehn Broadway-Songs in unvergleichlicher Manier. Kaum Country, aber viel Klasse.
Label: Concord (Universal) | VÖ: 25. Juni 2021 |
01 | Wouldn’t It Be Loverly |
02 | it Down, You're Rockin' The Boat |
03 | Wait For It |
04 | Almost Like Being In Love |
05 | It All Fades Away (mit Brandi Carlile) |
06 | There's A Sucker Born Ev'ry Minute |
07 | Oh, What A Beautiful Mornin' |
08 | Anyone Can Whistle |
09 | You Will Be Found |
10 | Tomorrow |