Alles ist in Bewegung. Nichts bleibt, wie es ist. Das Leben: ein Fluss. Diese philosophischen Allerweltsweisheiten gelten natürlich auch für die Country Music. Auch hier ist Veränderung der Normalzustand. Dazu kommt das kleine Marketing-Alphabet: Landet ein Act mit einem speziellen Sound, mit speziellem Konzept einen Treffer - ziehen ruckzuck die nächsten nach. Ein Trend entsteht. So war das mit Taylor Swift, mit Lady Antebellum und so war's zuletzt mit Acts wie den gut gelaunten Party-Krachern von Florida Georgia Line. Bro-Country nennt sich die Ballermannisierung des Country der beiden, die natürlich schnell Nachahmer fand. Aber: Es gilt auch das Gesetz, dass jedem Trend ein Gegentrend folgt. Im Falle von Bro-Country eine gute Nachricht. Denn das Gegenteil von oberflächlichen Mitschunkel-Klängen und simplen Refrains kann nur heißen: back to the roots. Zurück zum klassischen Country und zur Singer-Songwriter-Tradition.
Chris Stapleton führt die Gone Country-Truppe an
Die Speerspitze dieser neuen/alten Bewegung heißt Chris Stapleton. Nachdem der bärtige, bärbeißige Sänger und Songschreiber aus Kentucky mehrere Jahre lang Hits für Kenny Chesney, George Strait, Tim McGraw, Darius Rucker und weitere Hochkaräter geschrieben hat, veröffentlichte er im letzten Jahr - im zarten Alter von 37 Jahren - sein Solo-Debüt-Abum "Traveller". Er landete damit nicht nur einen Volltreffer. Der ehemalige Sänger und Frontman der SteelDrivers verursachte mit seinen rustikalen, nicht selten düsteren, meist wenig radiotauglichen Songs ein kleines Erdbeben an der Music Row. Denn: Er eroberte mit dem von Dave Cobb produzierten Album nicht nur die Country- sondern auch die begehrten Billboard 200-Charts. Mehr geht nicht. Wie sehr das Nashville-Establishment den Sänger mit der Waldschrat-Optik ins Herz geschlossen hat, ließ sich bei den letzten Country Music Awards bewundern. Gleich vier Awards durfte der etwas tapsige Künstler auf der Grand Ole Opry-Bühne in Empfang nehmen. Darunter die Wichtigsten: den Award für "Male Vocalist of the Year" und - für die Königsdisziplin - "Album of the Year".
Okay, die zwei Spaßvögel von Florida Georgia Line gewannen ihren Preis in der Kategorie "Vocal Duo of the Year". Doch es musste für die erfolgsverwöhnten Party-Helden ein vergiftetes Lob sein. Denn die Message ist klar: Qualität hat wieder Konjunktur. Chris Stapleton ist freilich ein zu feiner Kerl, um Schadenfreude zu empfinden. Und Arroganz ist dem unangepassten Superstar ohnehin so fremd wie ein Rasierapparat: "Jede Musik hat ihre Berechtigung", sagt er im Gespräch mit CountryMusicNews.de, "ich mache grundsätzlich nicht die Musik von anderen schlecht. Doch die Medien spitzen das oft zu, sie möchten, dass das in einem Krieg ausartet. Das geht viel zu weit für mich." Es gebe nun mal verschiedene Arten von Musik für verschiedene Menschen. Jeder solle sich seinen eigenen Lieblings-Sound suchen - und fertig. Kein Problem. Kein Grund, sich in die Wolle zu kriegen. Als ehemaliger Auftragssongschreiber wisse er überdies ganz genau, dass hinter jedem erfolgreichen Lied eine Menge Arbeit und Talent stecke. Trotz aller Toleranz - auch Stapleton hat erkannt, dass Nashville die traditionellen Klänge in der letzten Dekade vernachlässigt hat. "Kein Vorwurf", beschwichtigt er aber sofort wieder, "wir sind im Musikgeschäft. Was erfolgreich ist, muss auch auf den Markt kommen. Und diese Country-Pop-Acts ermöglichen es, dass Leute wie ich Platten machen können. Das darf man nicht vergessen." Aber auch nicht, dass der Trend den erwähnten Gegentrend befeuere: "Ja, klar, ich sehe eine Nachfrage an traditionellen Sachen. Die Leute reagieren positiv darauf."
Chris Stapleton hat für seine Musik längst ein klangliches Ideal gefunden. Der Sound, der den bulligen Kerl in seinem tiefsten Inneren rührt, hat einige Jahre auf dem Buckel. Es ist die Country Music, wie sie in den frühen 70er Jahren gemacht wurde. Mit Produzent, Equipment-Nerd und Retro-Sound-Freak Dave Cobb hat Stapleton einen Gleichgesinnten für diese Klang-Blaupause gefunden. Aufmerksam wurde Stapleton auf Cobb übrigens durch das 2014 erschienene Album "Metamodern Sounds in Country Music" von Sturgill Simpson. "Ich wollte zwar nicht ein Album wie Sturgill aufnehmen", sagt Stapleton, "aber ich mochte den Sound. Sehr sogar."
Sturgill Simpson - Wegbereiter für Chris Stapleton
Nicht nur deshalb dürfte Sturgill Simpson so etwas wie ein Wegbereiter für den großen Abräumer Stapleton sein. Er bestellte mit seinen anspruchsvollen, ganz im Roots- und Retro-Kontext verankerten Songs auch das kommerzielle Feld für ihn. Wenngleich für "Metamodern Sounds in Country Music" lediglich Platz acht der Country- und Platz 59 der Billboard-Charts heraussprang, hat Simpson dennoch seinen festen Platz im neuen Country gefunden. Er gilt als Intellektueller, als introvertierter Bücherwurm, als Feingeist und als Textdichter besonderer Güte. Dass er seine mitunter existenziellen Lyrics mit einer an Waylon Jennings erinnernden Stimme vorträgt, ist freilich kein Nachteil. Wobei Simpson nicht nur mit Country musikalisch sozialisiert wurde. "Ich liebe die alten Soulplatten, mit ihrem Dreck, mit ihrem Schmutz, mit ihrem intensiven Leben - so etwas hört man heute nicht mehr", sagte Simpson kürzlich in einem Interview.
Wie Stapleton ist auch Simpson 37 Jahre alt. Wie sein Kollege stammt auch er aus Kentucky. Simpson hat sich allerdings nie als Songautor für andere Künstler versucht. Er gründete 2004 eine Bluegrass-Band, spielte in kleinen Clubs für lächerliche Gagen und 2013 veröffentlichte er das - selbst finanzierte, selbst vertriebene - Debüt-Album "High Top Mountain". 14.000 Mal verkaufte sich das ebenfalls von Spürnase Dave Cobb produzierte Werk und landete auf Platz 31 der Country Charts. Ein Achtungserfolg. Ein Fingerzeig. So langsam wäre es an der Zeit für den Nachfolger von "Metamodern Sounds In Country Music". Aber Simpson - ein Bruder im rebellischen Geiste von Willie Nelson - kennt keinen Veröffentlichungsdruck. "Ich brauche meine Zeit und meine Freiheit, ich lebe ganz im Hier und Jetzt." Er weiß, dass er damit nicht gerade auf Linie mit den Vorstellungen der Plattenfirmen liegt, doch das kümmert ihn wenig. Denn: "Bei denen kommt die Kunst doch sowieso als Letztes."
Kacey Musgraves - Die Frau in der jungen Garde anspruchsvoller Künstler
Da dürfte Kacey Musgraves nicht widersprechen. Auch sie gehört zum etwas anderen Establishment der Country-Szene, zur jungen Garde anspruchsvoller Künstler, die ihre Inspirationen aus der Vergangenheit beziehen. Im Gespräch mit CountryMusicNews.de zählt sie die Liste ihrer musikalischen Lieblinge auf es sind die Helden, die Pioniere des Country: Charlie Rich, Charley Pride, Glen Campbell, Marty Robbins, Loretta Lynn und - vor allem - John Prine. Auf die aus Illinois stammende Country- und Folk-Ikone stimmt Musgraves sofort eine Lobeshymne an: "Ich liebe seine Art, wie er singt, wie er Songs anlegt und seine Scharfsinnigkeit. Sein Wortwitz, seine Beiläufigkeit, das inspiriert mich sehr. Sein Einfluss auf meine Musik ist zweifellos da." Dabei könnte Kacey Musgraves musikalisch wohl in vielen Gewässern bestehen. Sie ist jung, attraktiv, hat eine tolle Stimme und besitzt eine großartige Ausstrahlung. Sie könnte - ähnlich wie LeAnn Rimes - im Pop punkten, sie könnte auf Diva à la Shania Twain oder Faith Hill oder einfach nur radiofreundlichen Mainstream-Country machen. Vermutlich würde sie in allen Stilrichtungen ihre Fans finden. Das zeigte sich auch, als sie mit Katy Perry auf Tour war. "Das war eine tolle Erfahrung", sagte sie zu CountryMusicNews.de. So viele Menschen, ein so großes Spektakel. Es habe ihr Spaß gemacht - doch ins Schwärmen gerät sie erst, als sie von der gemeinsamen Tour mit Willie Nelson und Alison Krauss spricht. "Es war so toll zu sehen, wie es den beiden um die Musik ging. Nur um die Musik - ohne protzige Produktion, ohne Feuerwerk. Das Feuerwerk boten die Songs."
Jamey Johnson - Der Veteran der jungen Garde
Hinter diesen drei Vorreitern des jungen, neuen, anspruchsvollen Country reihen sich noch weitere Acts mit ähnlicher Gesinnung, ähnlichem musikalischem Kurs ein. Zum Beispiel der aus Alabama stammende, optisch und auch musikalisch an Chris Stapleton erinnernde Jamey Johnson. Seit 2002 bringt der als schwierig geltende Sänger und Songschreiber Alben unters Volk; mit dem 2010 erschienenen "The Guitar Song" eroberte er die Country-Charts und landete auf Platz vier der Billboard-Liste. Sein letztes Werk, das 2012 erschienene "Living For A Song: A Tribute to Hank Cochran" war ähnlich erfolgreich - aber auch das bislang letzte Lebenszeichen als Solokünstler.
Jason Isbell - Der Zuverlässige der Gone Country Generation
Produktiver, wenngleich kaum weniger kompliziert, nimmt sich Jason Isbell aus. Der ehemalige Sänger und Gitarrist der Drive-By Truckers ist seit 2007 auf Solo-Kurs. Seitdem veröffentlicht er, pünktlich wie eine Schweizer Uhr, im zwei-Jahres-Turnus Alben. Für die erntet der introvertierte, ganz die alte Singer-Songwriter-Schule pflegende Künstler regelmäßig wahre Lobeshymnen. Seinen Geheimtipp-Status konnte er dennoch bislang nicht ablegen. Wer weiß, vielleicht ist jetzt die Zeit reif für ihn und seine bewegenden, tiefgründigen Songs? Immerhin fuhr er mit seinem letzten, 2015 erschienenen Album "Something More Than Free" mit Platz sechs der Billboard- und Platz eins der Country-Charts sein mit Abstand bestes Ergebnis ein.
Will Hoge - zwischen traditionellem Country, Folk und Southern-Rock
Mit der Bezeichnung "Geheimtipp" kennt sich vermutlich auch Will Hoge aus. Der in Franklin, bei Nashville lebende Künstler veröffentlicht seit 2001 hochkarätige Alben - mit Songs, im Grenzfeld zwischen traditionellem Country, Folk und Southern-Rock. Dass mit dem sympathischen Musiker aber mehr denn je zu rechnen ist, belegte sein Auftritt im letzten September beim "Pilgrimage"-Festival in Franklin. Seine dynamische Performance bescherten Hoge beste Kritiken. Die erntete er auch für sein biografisches Album "Small Town Dreams", bei dem er für Songs wie "Guitar Or A Gun" mit Gary Allan zusammenarbeitete. Resultat: ein starker Song. Ein kritischer Song mit Message - und damit geradezu prototypisch für die junge Garde neuer anspruchsvoller Country-Künstler.