1923

1923

Harrison Ford und Helen Mirren in den Hauptrollen des "Yellowstone" Prequels 1923

Taylor Sheridan hat einem Genre zu einem Comeback verholfen, das längst als klinisch Tod galt: dem Western. Er hat dies vollbracht, indem er das zeitliche Korsett abgelegt hat, in dem sich ein Western für gewöhnlich bewegt. Seine Hitserie "Yellowstone" ist eine Westernserie. Die Hauptfigur der Serie, John Dutton, ist der klassische Patriarch. Ein harter Kerl in einer rauen Welt, in der Land den wahren Reichtum eines Mannes darstellt.

In seinem Fall ist es viel Land. Dutton mag nicht unbedingt als die große Sympathiefigur herhalten, aber er ist ein Kerl, der mit offenem Visier kämpft. Gnadenlos gegenüber seinen Feinden, aber gradlinig. Er ist ein Mann, der für seine Werte einsteht.

Nur "Yellowstone" spielt im Hier und Jetzt. Die Serie mag wie eine klassische Westerngeschichte aussehen, eine Figur wie John Dutton mag Werte vertreten, wie sie typisch sind für klassische Western. Doch Serienerfinder Taylor Sheridan hat die Geschichte aus seinem historischen Gewand befreit und in die Gegenwart versetzt.

"1923" liegt zwischen den bisherigen Yellowstone-Serien

Nachdem er mit dem ersten Serienableger, "1883", die Konventionen klassischer Westernstorys beachtete (Spielort, Zeit der Handlung; aber auch die Figuren, die Kamera, die Bildgestaltung bewegen sich in sehr traditionellen Sphären, auch die Geschichte eines Trecks könnte kaum klassischer sein), liefert er nun mit "1923" eine Serie aus einer Art Zwischenzeit.

Harrison Ford ist Jacob Dutton, der ältere Bruder von James Dutton (dem männlichen Protagonisten der Serie "1883", die Country-Sänger Tim McGraw darstellte). Dieser Jacob Dutton ist ein Mann, der beides erlebt hat. Die Zeit des Wilden Westens und die Gegenwart des frühen 20. Jahrhunderts.

Selbst kinderlos haben er und seine Frau Cara (Helen Mirren) James' und Margrets Söhne Spencer und Jack aufgenommen und diese als ihre eigenen Söhne aufgezogen. Die erste Episode, die den Titel "1923" trägt und am 27. Mai 2023 ihre Deutschlandpremiere erlebt hat, etabliert eine Welt, die einen Bruch erlebt hat und sich auf der Suche nach sich selbst befindet. Dieser Bruch ist der Erste Weltkrieg. Dieser Krieg hat auf Schlachtfeldern fern der Dutton-Heimat Montana stattgefunden, doch dieser Krieg hat die Welt aus den Fugen gerissen.

Taylor Sheridan visualisiert diesen Bruch in einer krassen, überraschenden Weise, die mit Sicherheit manch einen Freund der Serie irritiert, denn er verlegt einen Teil der Handlung nach Kenia! Was auf den ersten Blick den totalen Bruch mit dem Genre des Westerns darstellt, ist doch ein cleverer Schachzug, um eine Figur zu etablieren, die die gesamte Gebrochenheit dieser Zeit in sich trägt - Spencer Dutton. Spencer ist ein Idealist, der in den Krieg gezogen ist, um dort jenen Wert zu verteidigen, den die Duttons mit der Muttermilch aufsaugen: Die Freiheit! Erlebt hat er einen unaussprechlichen Horror, wie eine kurze Rückblende erzählt, die ihn inmitten eines regelrechten Massakers zeigt, dass er nur überlebt, indem er seine Menschlichkeit verleugnet und zur reißenden Bestie mutiert, die mit bloßen Händen tötet, um zu überleben.

Gebrochen von den Ereignissen ist er nicht nach Hause zurückgekehrt, stattdessen nimmt er am Big Game (Hunting) teil. Das, was die Amerikaner Big Game nennen, nennt man hierzulande Safari. Es ist aber eine schwierige Übersetzung. Wo der Reisende auf der Safari nach deutschem Verständnis mit der Kamera ausgerüstet auf die Jagd geht, ist im Big Game die Waffe unabdingbar. Die Trophäe ist der ausgestopfte Löwenkopf, nicht das schönste Foto. Spencer aber reist nicht auf den Spuren Hemingways oder anderer Reisender, die den Mord an den Tieren der Savanne romantisch verklärten. Spencer tickt - anders. Ja, er sucht die offene Konfrontation mit Löwen und anderen Raubtieren, er sucht den Gegner, dem er sich stellen kann und der auf Augenhöhe agiert. Vielleicht sucht er sogar den Tod. Bei alledem verfolgt er jedoch eine Agenda. Er jagt nur solche Großkatzen, die ihrerseits nachweislich Menschen angegriffen haben. Ob er dabei weißen Kolonialisten zur Seite steht oder Massai - Spencer hat dieses überbrachte Denken längst überwunden, was ihn zu einer vergleichsweise überraschend modernen Figur im Serienuniversum macht.

Spencer, vom Krieg traumatisiert, auf der Suche nach Antworten (ohne, dass er eine Frage formulieren könnte), hat vielleicht am ehesten Verstanden, dass sich die Zeiten geändert haben. Er ist in dieser Zeit angekommen. Selbst wenn man seine Reise auf den afrikanischen Kontinent als eine Flucht vor den Irrungen und Wirrungen seiner Gegenwart interpretieren mag, ist er sich doch am ehesten dieser Irrungen und Wirrungen bewusst.

Die Unterschiede von Spencer und Jacob Dutton

Ganz anders tickt Jacob Dutton. Sein Leben gehört seinen Rindern und seinem Land. Ein Land, das von einer Heuschreckenplage heimgesucht wird. Rinder sterben, Gras vertrocknet. Das aber ist nicht Jacobs einziges Problem: Die Rinderfarmen befinden sich in einem Kampf mit den Schafzüchtern, die von dem Schotten Banner Creighton (Jerome Flynn) angeführt werden. Taylor Sheridan kreiert hier eine klassische Konfrontationssituation mit zwei um Weideland konkurrierenden Parteien: In diesem Fall Rinderzüchter auf der einen Seite und Schafzüchter auf der anderen. Die Rinderzüchter betrachten sich in diesem Kampf nicht nur als die überlegende Fraktion, da ihnen das Land gehört, was sie den Schafzüchtern, die ihr Land nur gepachtet haben, zu spüren geben. Sie betrachten sich auch als Bewahrer ihres Landes - indem sie die Schafzüchter dafür verantwortlich machen, das Land nicht zu schonen. So lassen diese ihre Tiere das Gras bis zur Wurzel abfressen, sodass dort, wo sie ihre Herden haben weiden lassen, nichts mehr nachwächst. Eine Anschuldigung, die die Schafzüchter so nicht stehen lassen wollen.

Nun ist dies aber nicht mehr der Wilde Westen, in dem man einfach zur Waffe greift und am Ende der Recht hat, der noch in seinen Stiefeln steht. Die Rinderzüchter mögen in ihren Outfits, mit ihren Waffen und ihrer Liebe zu Pferd und Kutsche rein äußerlich den Wilden Westen visuell fortbestehen lassen: Montana aber ist kein rechtsfreier Raum mehr. Dies wird vor allem in der Figur des Sheriff William McDowell (Robert Patrick) deutlich. Der ist ein guter Freund der Dutton-Familie, aber er ist auch ein Vertreter des Gesetzes. Und nach diesen Gesetzen gibt es Gremien, die etwa Streitfragen, wie die um die Landnutzung, klären (sollen). Was er auch seinem Freund Jacob Dutton zu verstehen gibt, der den Konflikt durchaus auf traditionelle Weise lösen würde - wenn er dürfte.

Im Mittelpunkt des jetzt folgenden Geschehens steht die Suche nach saftigen Wiesen. Jacob besitzt hoch gelegenes Land, das von den Heuschrecken und der Dürre noch verschont sein dürfte. Er stellt einen Treck zusammen, der die Rinder auf eben diese Weiden führen soll. Bevor die Rinder sich jedoch auf den Weg machen, lassen die Schafzüchter eines Nachts ihre Tiere los. Heimlich. Wofür sie den Stacheldrahtzaun, der Jacobs Land eingrenzt, durchschneiden.

Stacheldraht in der Prärie? Das war nie eine gute Idee. Und es ist nicht frei von Ironie, dass es die Rinderzüchter sind, die nun ihr Land eingezäunt haben, gelten sie doch in der Welt des klassischen Westerns als jene, die Stacheldraht verabscheuen...

Taylor Sheridan drückt aufs Tempo

Taylor Sheridan drückt einmal mehr aufs Tempo. Wie schon in "1883" gibt es wenige ruhige Momente. Und selbst in ruhigen Augenblicken werden für die Geschichte wichtige Schritte unternommen, die nur ein Ziel kennen: Die Story voranzutreiben. Etwas unscharf bleibt eine Nebenhandlung, in der eine junge Indianerin, die an einer katholischen Boarding School die Hölle auf Erden erlebt, sich aber nicht brechen lässt, im Mittelpunkt steht. Ihr Name lautet Teona Rainwater. Sie dürfte also die Groß- oder Urgroßmutter von Chief Thomas Rainwater aus der Mutterserie "Yellowstone" sein.

Taylor Sheridan und sein "Yellowstone"-Franchise

Taylor Sheridan hat mit "Yellowstone" eine Serie kreiert, die besonders unter Konservativen in den USA beliebt ist und die von der linken (US-)Kritik eher mit spitzen Fingern angefasst wird. Eines ist mit Sicherheit unbestritten: Ein zurückhaltender Westküstenliberaler ist John Dutton nicht. Er kann ein ziemlicher Dreckskerl sein, wenn es darum geht, sein Land zu verteidigen. Sein Land, seine Regeln. Dutton versprüht jene Art von Maskulinität, die in linken Kreisen heute für das Gestern steht.

Aber ist es so einfach? Schnitt zurück auf "1923". Da ist dieses Land, das unter der Dürre leidet. Da sind Wunden der Vergangenheit (hier dargestellt durch einen Sohn/Neffen, der nicht nach Hause zurückkehren kann, weil ihn etwas im Krieg zerbrochen hat). Man sollte meinen, ein solches Land müsse genau jetzt zusammenhalten und nach vorne blicken. Doch was geschieht? Viehzüchter fechten einen Konflikt aus, der längst aus der Zeit gefallen ist. Dieser Kampf 30 Jahre früher, okay. Aber im Jahre 1923? Die gesamte Ausgangssituation der Serie lässt Vergangenheit und Gegenwart kollidieren. In kurzen Szenen (wenn die Viehzüchter denn einmal miteinander sprechen) zeigt Sheridan auf, dass es durchaus möglich wäre, ihren Konflikt allein durch Vernunft zu lösen. Doch kaum bringt jemand ein Argument vor, über das diskutiert werden könnte, wird er als Ire (Rinderzüchter) oder Schotte (Viehzüchter) beschimpft, die Diskussion verlässt innerhalb von Sekunden das Fundament der Vernunft und männliches Testosteron durchströmt das Geschehen. Der Vernunft wird gar nicht erst eine Chance gegeben. Und genau das spiegelt die politische Landschaft der USA 100 Jahre später verdammt gut komprimiert wider.

Hieß es zunächst, die Prequels zur Mutterserie "Yellowstone" seien als einmalige Events zu verstehen - jeweils eine Geschichte mit Anfang, Mitte, Ende -, wird "1923" nach ihrem Erfolg in den USA Ende 2022/Anfang 2023 eine zweite Staffel erhalten. Was die erste Staffel betrifft, die gerade erst in Deutschland ihren Anfang genommen hat, darf man auf ihre Entwicklung gespannt sein. Eines ist klar: Taylor Sheridan hat einen Lauf.

Fazit: "1923" lässt es rasant angehen, ohne auf Effekthascherei zu setzen. Im Gegensatz zum extrem geradlinigen ersten Prequel, "1883", bietet "1923" sehr viel narratives Futter auch zwischen den Zeilen. Auf jeden gilt eine uneingeschränkte Kuckempfehlung!

Studio: Paramount Land: USA, 2022 - 2023
  FSK: ab 16 Jahren 
Drehbuch von     Darsteller   Rolle  
Taylor Sheridan     Helen Mirren ... Cara Dutton  
      Harrison Ford ... Jacob Dutton  
      Brandon Sklenar ... Spencer Dutton  
      Julia Schlaepfer ... Alexandra  
      Jerome Flynn ... Banner  
      Darren Mann ... Jack Dutton  
      Isabel May ... Elsa Dutton  
      Robert Patrick  ...  Sheriff McDowell  
      Timothy Dalton ... Donald Whitfield  
      Bruce Davison ... Arthur  
 

 

1. 1923 (1923)
Deutsche Erstausstrahlung: 27.05.2023 Paramount+
Original-Erstausstrahlung: 18.12.2022 Paramount+

 


2. Mutter Naturs unbesetzter Thron (Nature's Empty Throne)
Deutsche Erstausstrahlung: 27.05.2023 Paramount+
Original-Erstausstrahlung: 25.12.2022 Paramount+


3. - (The War Has Come Home)
Deutsche Erstausstrahlung:
Original-Erstausstrahlung: 01.01.2023 Paramount+


4. - (War and the Turquoise Tide)
Deutsche Erstausstrahlung:
Original-Erstausstrahlung: 08.01.2023 Paramount+


5. - (Ghost of Zebrina)
Deutsche Erstausstrahlung:
Original-Erstausstrahlung: 05.02.2023 Paramount+


6. - (One Ocean Closer to Destiny)
Deutsche Erstausstrahlung:
Original-Erstausstrahlung: 12.02.2023 Paramount+


7. - (The Rule of Five Hundred)
Deutsche Erstausstrahlung:
Original-Erstausstrahlung: 19.02.2023 Paramount+


8. - (Nothing Left to Lose)
Deutsche Erstausstrahlung:
Original-Erstausstrahlung: 26.02.2023 Paramount+


 

vgw
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