Prolog zu 1883
Welchem Stamm die Männer angehören und aus welchem Reservat sie stammen, es ist nicht bekannt. Wir schreiben das Jahr 1883 und diese Männer, Native Americans, haben gerade einen Siedlertreck überfallen. Leichen liegen auf dem freien Feld, die Angreifer kennen keine Gnade. Eine junge Frau mit blonden Haaren bringt den Mut auf, einen der Angreifer zu fragen, weshalb sie das tun? Er spricht doch ihre Sprache. Ihre Sprache, fragt er? Ihre Sprache hält sie, die Weißen, doch auch nicht davon an, seinem Volk Leid anzutun. Dennoch ist er gewillt, die junge Frau am Leben zu lassen, um sie zu verkaufen. Sie jedoch zieht einen Colt und erschießt ihn. Nur einen Augenblick später dringt ein Pfeil in ihren Unterleib ein und tritt aus ihrem Rücken wieder aus.
Das Prequel zu Yellowstone
Nein, dies ist kein Spoiler, der eine entscheidende Szene des Yellowstone-Prequels "1883" ohne Vorwarnung verraten würde. Dies ist der Prolog der Serie, es sind die ersten nicht einmal drei Minuten, mit denen eine Serie startet, der man sich, trotz einiger Schwächen, nur schwerlich entziehen kann. Showrunner Taylor Sheridan hat die Serie als Prequel zu seiner Erfolgsserie "Yellowstone" an den Streamingdienst Paramount+ verkauft. Ein kühnes Unterfangen schließlich liegen rund 140 Jahre zwischen den Handlungen der beiden Serien.
"1883" soll die Geschichte der Familie Dutton von dem Moment an erzählen, in dem sie einst in die Weiten des noch Wilden Westens aufbrachen, um dort jenes Land an sich zu nehmen, das ihre Nachkommen eines Tages reich und mächtig werden ließ - bis in unsere Gegenwart. Es sollte sich jedoch niemand darüber wundern, wenn Taylor Sheridan unter Umständen nur die Gunst der Stunde ergriffen haben sollte – um ein altes Konzept verkauft zu bekommen, das ohne den Erfolg von "Yellowstone" nie umgesetzt worden wäre. Western gehören nicht unbedingt zu den Serienformaten, die das Goldene Zeitalter der TV-Serie bestimmen. Schon gar nicht, wenn die Produktionskosten bei 100 Millionen Dollar liegen. Deadline.com, ein seriöses Online-Magazin, vermeldet zumindest Kosten von rund 10 Millionen US-Dollar pro Episode. Das sind Summen, die so ziemlich jede Vorstellungskraft sprengen. Es sollte demnach nicht verwundern, sollte Sheridan nach dem riesigen Erfolg von "Yellowstone" ein altes Konzept über einen Siedlertreck aus der Schublade geholt und ein paar Namen geändert haben, um es stante pede in ein "Yellowstone"-Prequel zu verwandeln.
Ja, dies ist nur ein Gedankenspiel, aber eines, welches die Serie nur bedingt widerlegt, denn diese interessiert sich tatsächlich wenig für den Moment der Landnahme selbst, also jenen Augenblick, der die Duttons zu dem machen wird, was sie im Yellowstone-Serienuniversum heute sind. "1883" erzählt vielmehr die Geschichte eines Siedlertrecks gen Oregon, dem sich James Dutton, der Ururgroßvater von John Dutton III (Kevin Costner in Yellowstone), eher zufällig anschließt. So ist auch nicht James Dutton die alles bestimmende Hauptfigur. Die ist zunächst Shea Brannon, genannt der Captain, ein in die Jahre gekommener Pinkerton Detective, der einen vornehmlich aus Osteuropäern (Russen, Polen, Roma, aber auch aus dem Osten stammenden Deutschen) bestehenden Treck in den Norden führen will. Ihr Ziel: Oregon. Das Problem: Das Land zwischen dem Norden von Texas und den Siedlungsgebieten in Oregon, wo Gesetzlosigkeit und Anarchie herrschen. Dass Shea den Treck führt, ist, wie er selbst im Laufe der Geschichte bemerken wird, seiner Feigheit zu verdanken. Gerade erst hat er seine an den Pocken verstorbene Frau und seine Tochter verbrannt, doch der Versuch, sich selbst zu erschießen, scheitert. Er schafft es nicht, den Abzug durchzudrücken. Gut für Thomas, seine rechte Hand. Thomas, ein Buffalo Soldier und damit ein ehemaliger Sklave, der aufseiten der Nordstaaten im Bürgerkrieg gekämpft hat, hat kein Interesse, den Treck alleine anzuführen. Er vertraut auf Sheas Erfahrung.
James Dutton treffen sie eher zufällig, als dieser in seiner Siedlerkutsche von Banditen angegriffen wird. Statt James zu Hilfe zu kommen, beobachten sie, wie dieser sich der Übermacht der Banditen erwehrt und eiskalt die meisten von ihnen erschießt. Dass sie ihm nicht geholfen haben, nimmt er ihnen erst einmal - aus verständlichen Gründen - krumm, dennoch nimmt er später ein Angebot Sheas an. Shea muss nach dem ersten Treffen mit den Siedlern feststellen, dass es diesen an jeglichen Skills fehlt, die sie benötigen, um zumindest eine Chance zu haben, auf dem Weg gen Norden nicht am Wegesrand zu krepieren. Sie können nicht schießen, sie haben nicht einmal Waffen. Sie sind Bauern auf der Suche nach etwas Glück. Und viel Geld haben sie auch nicht. So kann Shea ihnen zwar einige Rinder organisieren, die sie brauchen werden, um ihre Farmarbeit aufzunehmen (oder um sie unterwegs zu verspeisen), er kann auch zwei Cowboys für den Treck interessieren, die trotz der eher mauen Bezahlung bereit sind, sich dem Unternehmen anzuschließen. Was ihm jedoch fehlt, das sind Männer wie Dutton. Also gehen sie einen Deal ein. Dutton schließt sich an. Dafür erhält er den Schutz des Trucks als Einheit, als Gegenleistung geht er Shea zur Hand, wenn der ihn braucht.
Bevor der Treck aufbricht, nimmt James seine mit dem Zug angereiste Familie in Fort Worth in Empfang. Seine Frau Margret, seine Tochter Elsa, seinen fünfjährigen Sohn John sowie seine Schwester Claire und deren Tochter Mary, zwei religiöse Eifererinnen, die Elsas Freiheitsdrang ebenso verabscheuen wie Margrets wenig damenhaftes Auftreten. Claire und Mary haben sich James' Idee, ein Stück Land in Oregon zu bewirtschaften, um dort eine eigene Ranch zu gründen, nur angeschlossen, da Claires Mann verstorben ist und sie nun alleine dastehen. Unversorgt. So setzt sich der Treck in Bewegung.
Ein Fest der Gewalt
Dies alles ist in etwa eine Zusammenfassung der ersten Episode, die, für sich, bereits ein Gewaltlevel erreicht, das Staunen lässt. James Dutton etwa schießt einem Taschendieb in den Rücken, den die aufgebrachte Menge nur zwei Minuten später an einem Balken aufhängt. Kurze Zeit später findet auf der Straße von Fort Worth ein Duell statt, bei dem sich gleich mehrere Männer gegenseitig aus Langeweile in die Ewigen Jagdgründe katapultieren - und dann ist da der besoffene Cowboy, der versehentlich in Elsas Hotelzimmer eindringt und statt sich zu entschuldigen, Elsa vergewaltigen will. Nur wenige Momente später klebt sein Gehirn an einer Wand, zerfetzt von einer Kugel aus James' Waffe. 1883 macht keine Gefangenen. Kaum unterwegs wird der Treck angegriffen, Siedler sterben. Shea holt direkt mit einem Marshal aus der nächstgelegenen Stadt zum Gegenschlag aus, der Prozesse eher lässlich findet und die Delinquenten gleich erschießt. Es herrscht Gewalt. Und wenn keine Banditen den Siedlern das Leben zur Hölle machen, sind es Klapperschlangen oder die Siedler selbst, von deinen einige keine Hemmungen haben, Witwen zu bestehlen, wenn diese nur einer Volksgruppe angehören, die sie in ihrer Heimat schon verachtet haben.
Shea ist derweil das Gegenteil eines Heiligen. Mit einem Helden alter Hollywoodherrlichkeit hat er nichts zu tun. Er ist ein Killer. Die Welt ist rau und sein Job ist es, so viele Siedler wie möglich nach Oregon zu bringen. Alle Siedler? Das hat niemand gesagt. Daher hat er auch keine Probleme damit, Siedler, die gegen die Regeln verstoßen, auszusetzen, wissend, dass sie in den Weiten alleine kaum überleben werden. Shea ist dabei ein ebenso kaputter Typ wie James Dutton. Shea hat seine Familie verloren und schleppt Traumata mit sich herum, die aus seiner Zeit bei der Nordstaaten-Armee stammen. James Dutton ist ein kaputter Typ, der nicht weniger Traumata aus dem Krieg mit sich herumschleppt, auch wenn er auf der anderen Seite gekämpft haben mag. So ist James' Traum von einem Stück Land in Oregon in Wahrheit eine Flucht. James will in ein Land, mit dem er keine Erinnerungen verbindet. Ob er wirklich in dieses Land ziehen will, beantwortet die Serie nicht, denn möglicherweise ist es in Wahrheit der Weg, der ihn antreibt. Auf dem Weg kann er seine Familie beschützen. Hier zählt die Vergangenheit nicht, die Zukunft aber ist auch nur eine Idee. Was zählt, das ist die Gegenwart, und mit der kommt er irgendwie klar. James wirkt äußerlich zäh und emotionslos. Das aber ist nur eine Fassade, die er gegenüber seiner Familie aufrechterhält.
Tim McGraw und Faith Hill
Country-Sänger Tim McGraw stellt diesen James Dutton mit einer erstaunlichen Präsenz dar, auch wenn er nie das feine Spiel von Sam Elliott erreicht, der in der Rolle von Shea ganz und gar aufgeht. Elliott, der wie kaum ein anderer Schauspieler der Gegenwart mit Western in Verbindung gebracht wird (er spielte neben Kevin Costner 1993 eine Hauptrolle in "Tombstone", wirkte in mehreren Louis L'Armour-Verfilmungen mit oder trat als General in der ebenfalls 1993 entstandenen Verfilmung von "Gettysburg" auf) darf auf der ganz großen Klaviatur der Gefühle agieren. Ob brutal, von Todessehnsucht getrieben oder fast schon verletzlich, Tim McGraw muss damit leben, dass die große Bühne dieser Serie nicht ihm gehört. Allerdings auch nicht Sam Elliott, der im Verlauf der ersten Hälfte der Serie mehr und mehr auf den zweiten Darstellerplatz rückt. Für Faith Hill, die in der Rolle der Margret in Momenten der Bedrohung die knochenharte Matriarchin gibt, die aber auch in ruhigen Momenten zu überzeugen versteht? Nein. Denn da ist Isabel May. Die Überraschung des Filmes - Taylor Sheridan nennt die Serie einen zehnstündigen Film mit Anfang, Mitte und Ende - besteht darin, dass er letztlich aus der Perspektive der Elsa erzählt wird. Zwar wird dieses Schema immer wieder gebrochen, Elsa kann nur Szenen kommentieren, in denen sie selbst auftritt, doch es sind ihre Augen, es ist ihre Stimme, welche die Szenerie und die Erfahrungen einordnen.
Taylor Sheridan ist mit dieser Perspektive ein Wagnis eingegangen. Die bei den Dreharbeiten gerade einmal 19-jährige Isabel May hätte an der Aufgabe scheitern können, so etwas wie das emotionale Zentrum des Filmes darzustellen. Doch ihre Performance ist nie zu bemängeln. Wirkt sie anfangs etwas vorlaut und sogar naseweis, durchläuft sie im Verlauf der Handlung einen atemberaubenden Wandlungsprozess. Stets am Anfang und am Ende gibt sie einen Monolog zum Besten, der die Gefühle und Erfahrungen der Elsa zusammenfassen. Und es sind exakt jene Gefühle und Erfahrungen, die auch wir, die wir die Serie verfolgen, mit Elsa und durch Elsa erleben. Gewalt, Verbrechen, aber auch Liebe und Hoffnung: es ist ein kleiner Geniestreich, eine fast noch jugendliche Figur zum Herzen der Erzählung zu machen, denn all diese Gefühle, die sich im Verlauf der Handlung ergeben, werden durch ihre Jugend viel intensiver und ungefilterter erlebbar als dies über eine der älteren Hauptfiguren möglich gewesen wäre.
Wo sich "Yellowstone" ganz auf den Patriarchen konzentriert und eine männliche, sehr klassisch inszenierte Hauptfigur in den Mittelpunkt des Erzählkosmos stellt, wird ausgerechnet in einer Welt, die als eine Men's World gilt der Erwartungshorizont gebrochen. Und es funktioniert. Selbst in Momenten, die etwas kitschig erscheinen mögen (wenn Elsa von ihrer Mutter beispielsweise erst einmal aufgeklärt werden muss, wie genau das zwischen Mann und Frau eigentlich läuft), liegt immer eine große Sympathie mit der Figur der Elsa über dem Geschehen. Ihr Leiden, ihre Wut, ihre Hoffnungen: Sie reißen mit.
Stolperer in der Inszenierung
Was der Inszenierung leider nicht gelingt: Den Spannungsfluss über die gesamte Spielzeit aufrechtzuerhalten. Da gibt es etwas, die Überquerung eines Flusses. Die Intention, die hinter dieser Geschichte steckt, ist leicht zu ergründen: Sie soll zeigen, welche auf den ersten Blick eher unspektakulären Ereignisse die tatsächlichen Herausforderungen an einen solchen Treck einst stellten - etwa dann, wenn wie hier osteuropäische Einwanderer ins Land kamen, denen in ihrer Heimat das Schwimmen verboten war. Da wird ein eher harmloser Fluss zur Todesfalle. Warum dafür aber eine ganze Episode draufgehen muss, in der es mal heißt - oh, hier könnten wir rüber, dann, oh, da vorne wäre es besser - damit in der nächsten Szene gesagt wird - och nö, alles zurück auf Anfang…? Nun, wenn das mit den 100 Millionen kein Marketingstunt ist, dann mussten am Fluss wohl Kosten gespart werden. Die Ausstattung der ersten Episode ist auf dem Niveau eines abendfüllenden Spielfilmes. Aber auch ein Rückblick auf eine Bürgerkriegsschlacht ist vom Material- und Komparsenaufwand her pures Kino. So etwas kostet Geld, da muss man zwischendurch halt auch einmal sparen und reitet zwei- oder dreimal an einem Flussufer entlang. Glücklicherweise sind solche Momente auf verschiedene Episoden verteilt, sodass es - von der Flussgeschichte abgesehen - keine wirklich langen Hänger gibt. Ganz frei von solchen ist die Inszenierung bei aller Finesse allerdings nicht.
Die Country-Stars
Die Besetzung der Rollen des James und der Margret Dutton mit Stars der Country Music, ist natürlich als ein Marketingcoup zu betrachten, gerade in Hinblick auf die Tatsache, dass "1883" als Western-Serie nicht zwingend das Publikum erreicht, das für einen Großteil des Erfolgs der Streamingdienste die Verantwortung trägt (nicht nur als Zuschauer, sondern auch als Multiplikatoren in den Sozialen Medien, wo etwa ein Cameo-Auftritt in einer Serie à la "Star Trek: Strange New Worlds" die digitalen Diskussionskanäle zum Glühen bringen kann, was als Werbung unbezahlbar ist; Serien wie "1883" haben solch ein Standing nicht, daher braucht es andere Aufmerksamkeitserreger wie Tim McGraw und Faith Hill, deren Besetzung dann eben auch Kanäle erreicht, die mit Serien weniger zu tun haben, aber trotzdem als Werbemultiplikatoren dienen). McGraw und Hill verrichten ihre Jobs anständig. Mehr noch als McGraw, der eine ganze Reihe von Spielfilmauftritten vorweisen kann, wenngleich er zumeist in Supporting Roles zu sehen gewesen ist, überrascht Faith Hill, deren Spielfilmportfolio weit übersichtlicher ausfällt. Sie gibt die in Momenten der Gefahr knüppelhart agierende Patriarchin mit Hingabe, aber auch in den eher ruhigen Augenblicken weiß sie den richtigen Ton zu treffen. Man vergisst schnell, wer die beiden jenseits der Kamera sind. So soll es sein.
Liebling der Konservativen
In den USA ist "Yellowstone" lange von der Kritik missachtet worden und auch heute gehört sie nicht gerade zu den Lieblingen der etablierten Film- und Fernsehkritik. Es ist nicht nur das Genre, das den Zugang schwierig macht - wobei die Frage gestellt werden darf, welchem Genre die Serie eigentlich zugeordnet werden darf. Thriller? Familiensaga? Moderner Western? Soap? Von allem etwas?
Die etablierte Film- und Serienkritik ist in den USA im Kern liberal geprägt. "Yellowstone" ist eine Serie, die nicht unbedingt liberale Werte im Sinne eines amerikanischen Küstenliberalismus vertritt. John Dutton III mag ein Mann sein, der die Freiheit liebt. Seine Freiheit aber verteidigt er mit Waffen, er hält wenig von staatlicher Reglementierung, sein Bild der Heimat ist geprägt von Bildern aus dem Klischeebilderbuch des Wilden Westens. Nur in einer romantisierten Form der Gegenwart, in der man über endloses, grünes Weideland im Hubschrauber fliegt und eben nicht mehr damit rechnen muss, dass hinter dem nächsten Baum schon der nächste Spießgeselle nur darauf wartet, einem aufrechten Cowboy die Kehle durchzuschneiden. Es verwundert nicht, dass dieser John Dutton, dieser Kämpfer für das wahre Amerika, ein Liebling der Republikaner, beziehungsweise Konservativen in den USA ist. Was wiederum nicht unbedingt die Zielgruppe der etablierten Kritik darstellt. Im Gegenteil: Man steht sich eher in Abneigung gegenüber.
Aber ist "Yellowstone" eine Serie, die das Sternenbanner hochhält und von der auf republikanischen Parteitagen Fanartikel verkauft werden? Kevin Costner, so konnte man dies im Dezember 2022 etwa im Spiegel nachlesen, ist über diesen Blick auf die Serie verwundert. Costner, ein bekennender Liberaler, sieht "Yellowstone" weitaus kritischer. Durchaus zu Recht, denn am Ende entzieht sich die Serie klaren Zuordnungsmustern. "Yellowstone" ist rau. Sie ist nicht links. Aber sie ist eben auch ein Hohelied auf den Konservatismus. Dafür ist allein schon die Familie Dutton viel zu kaputt.
Links oder rechts?
"1883" gelingt nun das Kunststück, dass man die Serie aus zwei vollkommen unterschiedlichen Perspektiven lesen kann.
"1883" ist eine Serie über den Pioniergeist, der Amerika erst zu dem gemacht hat, was heute Gottes eigenes Land genannt wird. Auf ihrer Reise in Richtung Oregon erleben die Menschen des Trecks Gewalt in einem Ausmaß, das es fast unmöglich macht, die Serie en bloc zu schauen. "1883" braucht Pausen. Bingewatching ist kaum möglich. Warum, so stellt sich die Frage, haben Menschen diese Last auf sich genommen? Die Antwort liefert ein deutscher Schauspieler: Marc Rissmann. Der Berliner stellt Josef dar, einen osteuropäischen Einwanderer, der von Shea quasi zum Sprecher der Einwanderer ernannt wird, da er als einziger fließend Englisch spricht. Josef erzählt zumindest einmal in einem etwas längeren Monolog von seiner Heimat. Aus welchem Land er genau stammt? Wahrscheinlich ist Josef ein Russlanddeutscher, vielleicht stammt er aus der heutigen Ukraine. Auf jeden Fall steht er aufgrund einer gemischten Herkunft zwischen ganz verschiedenen Stühlen und so kennt Josef nur eines: Unterdrückung. Unterdrückung der Meinung, der Bildung, der Religion, der Herkunft, der eigenen Zukunft und damit - der Hoffnung. Wenn sich diese Menschen auf den Treck begeben, dann, weil sie zumindest für einen Moment Hoffnung erleben. In ihren Heimatländern mögen ihre Körper leben, ihr Geist aber ist tot. Hier, in den Weiten der Prärie, besteht für die Menschen zumindest ein Ausblick auf eine Zukunft, ein echtes Leben und kein Dahinvegetieren. America the beautiful. Das macht sie natürlich zu den Pionieren, auf die man heute voller Stolz zurückblicken kann. Sie sind die, die die Unterdrückung hinter sich gelassen und den Tod getrotzt haben; sie haben ein Land aufgebaut, das größer und stärker werden sollte als die ganzen Shitholes, aus denen sie einst kamen. So lässt sich 1883 als eine Serie über eben diesen Pioniergeist lesen. Was eine konservative Lesart darstellt. Diese Lesart wird durch die Figur der Elsa noch verstärkt. Elsa, durch deren Augen wir die Geschichte erleben, mag zwar nicht zu diesen osteuropäischen Einwanderern gehören, dennoch steht sie ganz in diesem Pioniergeist, denn während der Reise wächst sie über sich hinaus. Sie erlebt Augenblicke der Freude, aber auch Momente bittersten Schmerzes: Doch kann nicht nur ein Land, das im Schmerz geboren wurde, es zu einer solchen Größe bringen?
Die Serie aber lässt sich auch ganz anders lesen. Nämlich als ein Gemälde über eine nie enden wollende Paranoia. Es ist ein Moment der fünften Episode, der unspektakulär erscheint, der aber für die Art, wie sich die Serie auch lesen lässt, von größter Wichtigkeit ist. Der Treck hat ein Problem: Hunger. Moment, man hat doch die Rinder, also sollte genug zu Essen da sein. Doch es ist wie immer komplizierter. Ein kleiner Dialog zwischen Shea und James gibt einen kleinen Einblick in die Geschichte der Trecks und die Art der Wegzehrung. So neigten Siedler dazu, zu früh zu viel Fleisch zu essen, was sich dann auf ihren Wegen negativ auswirkte. Aus diesem Grund sollte auf einem Treck immer ein Koch anwesend sein, der das Essen optimal zubereitete, der rationierte, der mit seinem Wissen die richtige Balance garantierte. Solch einen Koch hat der Treck nicht. In der fünften Episode erblicken Shea, Thomas und James in der Ferne eine fremde Rinderherde, die von Cowboys bewacht wird. Shea denkt für einen Moment darüber nach, deren Koch abzuwerben. Dieser Gedanke wird schnell verworfen, um nicht die nächste Schießerei zu provozieren. Es herrscht Misstrauen. Wer in der Ferne erscheint und unbekannt ist, ist ein Feind, im Zweifel gar ein Todfeind. Ja, es ist sogar mehr als nur Misstrauen. Es ist eine unterschwellige Furcht. Selbst Revolvermänner wie Shea und James können diese Furcht nicht ganz ausschalten. Warum? Weil sie selbst Männer der Gewalt sind. Gewalt erzeugt Gegengewalt erzeugt Gewalt. Jeder Fremde ist eine Bedrohung. Mag der Prolog von einer Schlacht mit Native Americans berichten, bestehen die meisten Mörderbanden, mit denen es der Treck in dieser Serie zu tun bekommt, aus weißen Amerikanern, sprich: Die Banditen, die hemmungslos morden und vergewaltigen, sind selbst Einwanderer oder Kinder von Einwanderern. Die Gewalt in der Stadt Fort Worth findet nicht unter verfeindeten Bevölkerungsgruppen statt: Es sind weiße Männer, die Spaß daran haben, einen Taschendieb, der sich nicht mehr wehren kann, zur Belustigung der Massen an einem Balken aufzuhängen. Dieses Amerika ist ein Land der Gewalt und die Gewalt kommt eben gar nicht zwingend von Außen. Sie kommt aus dem Inneren dieser Gesellschaft selbst. Wenn der Treck also das Gelobte Land erreichen sollte, mögen grüne Wiesen warten. Wem aber gehören diese Wiesen? Den Siedlern, die die Hölle durchlebt haben, um dieses Paradies zu erreichen. Frage: Warum genau sollten sie diese Wiesen mit anderen Einwanderern nun teilen, die vielleicht nicht mehr diese Strapazen haben durchleben müssen? Welches Weltbild geben diese Siedler wiederum an ihre Kinder weiter? Und diese an die nächste Generation? Der Fremde ist in diesem Weltbild immer wieder eine Gefahr, de sich etwas aneignen will, was ihm nicht zusteht. Gewalt ist da ein probates Mittel der Abschreckung.
"1883" ist weitaus vielschichtiger, schlauer, hinterfragender als dies auf den ersten Blick erscheinen mag. Die Serie bietet wahrlich nicht nur Schauwerte für die Augen. Sie bietet auch Futter fürs Gehirn.
PS: Im Rahmen der Handlung gibt es einen fetten Patzer. Beim ersten Zusammentreffen von Shea und Thomas mit den Einwanderern schlägt der erste Versuch eines Gespräches fehl. Es stellt sich heraus, dass keiner der Einwanderer auch nur im Ansatz genügend Englisch spricht, um halbwegs ein Gespräch führen zu können - mit Ausnahme von Josef, weshalb Shea in ihm den Anführer der Einwanderer sieht, was der aber gar nicht ist. Josef muss daher als Dolmetscher agieren. Auf dem Treck jedoch sprechen die meisten Einwanderer plötzlich, zumindest die mit Sprechrollen, allesamt Amerikanisch mit osteuropäischem Akzent.
PS II: Die Überquerung des Flusses wirkt ebenfalls etwas seltsam. Mal erscheint dieser durchaus zu Untiefen zu neigen, dann sitzen Shea und Thomas auf ihren Pferden, die ein Stück weit im Wasser stehen - wobei das Wasser kaum deren Hufe bedeckt. Wirklich tief wirkt das alles nicht. Die Inszenierung findet hier überhaupt keinen richtigen Anhaltspunkt, um die Gefahr wirklich greifbar zu machen. Die Gefahren wirken behauptet, aber nicht wirklich echt. Das ist zwar, bezogen auf die hohe Qualität der Serie als solches, eine Lässlichkeit, sie nervt jedoch ungemein, da sich all das so fürchterlich in die Länge zieht und die Unzulänglichkeiten der Episode unübersehbar macht.
PS III: Es ist korrekt, dass in diesem Text von einem Treck nach Oregon gesprochen wird, während sich die Dutton-Ranch aus "Yellowstone" in Montana befindet. Was es damit auf sich hat, soll an dieser Stelle aber nicht gespoilert werden.
PS IV: Taylor Sheridan hat erklärt, dass 1883 keine direkte Fortsetzung erfahren wird. Die Geschichte, die er erzählen wollte, hat er im Rahmen dieser Serie erzählen können. Dafür aber arbeitet er derzeit an einem Spinoff des Prequels! "1883: The Bass Reeves Story" soll eine Geschichte über den ersten afro-amerikanischen Marshal Bass Reeves erzählen, der während seiner Dienstzeit sagenhafte 3.000 Verbrecher verhaftet haben soll (und als Vorbild der Comicfigur des Lone Rangers dient!). Für die Hauptrolle wurde der britische Schauspieler David Oyelowo gecastet, ihm zur Seite steht Altstar Dennis Quaid, dessen Rolle jedoch angeblich auf keinem historischen Vorbild basiert. Dass "1883" möglicherweise ursprünglich gar nicht als "Yellowstone"-Prequel geplant worden ist, dafür spricht eine Aussage von Taylor Sheridan bezüglich der Bass Reves Story. Das ursprüngliche Konzept stand nämlich für sich allein, die Bezüge zum "Yellowstone"-Erzähluniversum wurden erst nachträglich ins Konzept eingefügt …
Fazit: "1883" ist ein raues Epos, das in den seriellen Weiten des Westens Maßstäbe setzt.
Studio: Paramount | Land: USA, 2021 - 2022 |
FSK: ab 16 Jahren |
Drehbuch von | Darsteller | Rolle | ||||
Taylor Sheridan | Sam Elliott | ... | Shea Brennan | |||
Tim McGraw | ... | James Dutton | ||||
Faith Hill | ... | Margaret Dutton | ||||
Isabel May | ... | Elsa | ||||
LaMonica Garrett | ... | Thomas | ||||
Eric Nelson | ... | Ennis | ||||
Marc Rissman | ... | Josef | ||||
James Landry Hébert | ... | Wade |