Man darf orakeln: Wofür wird wohl "29" stehen? Noch dazu in Stein gemeißelt? Wahrscheinlich soll es für ihr 29. Lebensjahr stehen, in dem für die aus Taylor Mill, Kentucky, stammende Country-Sängerin einiges passiert ist. Vermutlich sogar: zu viel für das zierliche Geschöpf mit der starken Stimme. Zum einen starb 2019 ihr Produzent, Songschreiber und Protegé Mike Busbee. Zum anderen ging im gleichen Jahr die Ehe mit ihrem singenden Kollegen Michael Ray in die Brüche. Die zwei Schicksalsschläge hat sie in der in diesem Jahr erschienenen EP "29" verarbeitet - und sie jetzt als Full-Length-Album erweitert: "29: Written In Stone" bietet soliden, harmonisch gefälligen und dazu Roots-orientierten Country-Pop.
Carly Pearce verarbeitet in Songs ihr Schicksal
Klar, die Verneigung vor den Wurzeln des Genres muss bei Carly Pearce sein. Nicht nur, weil sie aus dem superfruchtbaren Country-Nährboden Kentucky stammt. Nein, sie wollte einfach nie etwas anderes als eine Country-Sängerin sein. Bereits mit elf Jahren sang sie in einer Bluegrass-Band und fünf Jahre später schmiss sie die Schule, um es als Sängerin in Dollywood, dem von Dolly Parton initiierten Country-Themenpark in den Smoky Mountains, zu versuchen. Tag für Tag stand sie hier auf der Bühne und sammelte jede Menge Show-Erfahrung und nebenbei kultivierte sie ihr Songwriting. Mit 19 hielt sie sich schließlich für Nashville-tauglich, drei Jahre später unterschrieb sie ihren ersten Plattenvertrag.
Doch es dauerte, bis sich die ersten Erfolge einstellten. Mit "Wasn't That Drunk", ein Duett mit der Josh Abbott Band, schnupperte sie 2016 erstmals Charts-Luft (Platz 46). Im gleichen Jahr heuerte sie noch bei Big Machine an - und die Maschine kam tatsächlich sofort ins Rollen: Ihr Album "Every Little Thing" landete auf Platz vier der Country- und auf Platz 32 der amerikanischen Pop-Charts, die gleichnamige Single schlug sich ähnlich gut. An diesen Erfolg kamen ihr zweites, 2020, schlicht mit Carly Pearce betiteltes Album nicht ganz heran und "29", die erwähnte EP, schlug sich nur gut in der Country-Bestenliste. Okay, damit kann man leben. Vor allem Carly Peace, die schließlich nie etwas andere als ein Country-Star werden wollte.
Die sieben Songs der "29"-EP finden sich alle auch auf "29: Written In Stone". Als da wären: der erstklassige folky Country-Track "Next Girl", das gleichermaßen nachdenkliche, wie euphorische "Should've Known Better", das lässig-soulige "Liability", das herrlich verträumte "Messy", die sehr reduzierten, aber auch glaubhaften Balladen "Show Me Around" und "Day One" sowie - klar, darf nicht fehlen - der Titeltrack "29" in dem sie das Rätsel der Zahl löst. Ein großartiger Song, eine tolle Ballade und dazu eine schonungslose Aufarbeitung ihres schwersten Lebensjahres. Natürlich nimmt dieser, von Carly Pearce gemeinsam mit ihren Produzenten Shane McAnally und Josh Osborne geschriebene Track einen Ehrenplatz unter den 15 Songs des Albums ein.
"29: Written In Stone" weist Carly Pearce als gereifte Sängerin und Songschreiberin aus
Wie es heißt, ist die Sängerin bei den Arbeiten zur EP "29" wieder so richtig auf den Geschmack am Songschreiben gekommen. Deshalb hat sie auch bei allen 15 Album-Titeln mitgeschrieben. Neben McAnally und Osborne hat sie sich dafür mit weiteren prominenten Songwritern zusammengetan. So waren beim Opener - eine Abrechnung mit dem Ex – unter anderem Kelsea Ballerini, bei der Ballade "What He Didn't Do" (man kann sich denken wer) legten Ashley Gorley und Emily Shackleton Hand an, bei dem bluesig-entspannten "Easy Going" war Natalie Hemby und bei dem würzigen, im Dreiviertel-Takt gehaltenen Roots-Country-Track "Dear Miss Loretta" war Brandy Clark mit von der Partie. Bei letzterem Song ist natürlich keine Geringere als Loretta Lynn gemeint, ebenfalls eine Tochter aus Kentucky, die es auch nicht immer leicht in ihrem Leben gehabt hat, wie man weiß. Duett-Partnerin bei dieser außergewöhnlichen Huldigung: keine Geringere als Patty Loveless, die Country-Königin aus den 90ern. Ein generationsübergreifendes Muster an Frauen-Power also.
Wie es scheint, ist Carly Pearce noch längst nicht mental über den Berg. Ein paar Rechnungen scheinen zumindest noch offen mit ihrem Ex zu sein. Aber: Sie klingt weder verbittert noch todtraurig, wenn sie zu Rolling Stones-typischen Gitarren-Riffs und fast heiteren Country-Blues-Tönen "Your Drinkin', My Problem" feststellt. Ein klasse Song, superb gesungen dazu. Bevor sie mit den tiefgehenden Titeln "All The Whiskey In The World" und "Mean It This Time" das Album ruhig und friedfertig ausklingen lässt, hält sie mit einem weiteren Duett noch ein weiteres Highlight parat: Bei "Never Wanted to be That Girl" lässt immerhin CMA-Gewinnerin (und Co-Autorin) Ashley McBryde als Duett-Partnerin aufhorchen.
Fazit: Auf "29: Written In Stone" verarbeitet Carly Pearce in 15 Songs den Tod ihres Produzenten Busbee und ihr Ehe-Aus. Tragisch guter Stoff für klasse Country-Songs - von Shane McAnally und Josh Osborne erfreulich transparent produziert.
Label: Big Machine (Universal) | VÖ: 17. September 2021 |
01 | Diamondback |
02 | What He Didn't Do |
03 | Easy Going |
04 | Dear Miss Loretta (mit Patty Loveless) |
05 | Next Girl |
06 | Should've Known Better |
07 | 29 |
08 | Never Wanted to be That Girl (mit Ashley McBryde) |
09 | Your Drinkin', My Problem |
10 | Liability |
11 | Messy |
12 | Show Me Around |
13 | Day One |
14 | All The Whiskey in the World |
15 | Mean It This Time |