Verschwörungstheoretiker, und davon gibt es derzeit gerade ja mehr als genug, werden beim Anblick des Covers Alarm schlagen: Das Gesicht von Shelby Lynne ist in Großaufnahme zu sehen - ihre dezent ergrauten, kurz geschnittenen Haare hochgeföhnt, die blauen Augen stahlblau blickend und - jetzt kommt's - eine Art Mundschutz tragend. Hm, werden die Verschwörungstheoretiker also argwöhnen, hm, hat sie die Corona-Krise, die Not, den Shutdown und die Masken kommen sehen?
Eher nicht. Wahrscheinlich hatte Kollege Zufall einfach nur mal wieder seine Finger im Spiel (was Fanatiker sicher nicht beruhigen wird). Doch selbst ohne prophetische Qualitäten erhält die Covergestaltung jetzt, nachdem die ganze Welt Corona-verrückt geworden ist, eine seltsame, hochgradig aktuelle Komponente. Doch nicht nur deshalb passt das Album gerade in unsere Zeit. Denn was Shelby Lynne mit ihrem 16. Album musikalisch und inhaltlich anbietet, ist eine ganze Menge: elf Tracks mit Hirn, Herz und weit gestecktem Gefühlsspektrum.
"Shelby Lynne" nimmt einen Sonderstatus ein
"Shelby Lynne" nimmt im Schaffen der Grammy-dekorierten Künstlerin aus Quantico, Virginia, jedenfalls einen Sonderstatus ein. Auch weil es größtenteils in Zusammenarbeit mit der texanischen Texterin, Regisseurin und Drehbuchautorin Cynthia Mort und deren Independent-Film "We Kill The Creators" entstanden ist. Mehr als die Hälfte der Tracks schrieb sie während der Dreharbeiten zu dem Film, bei dem Lynne - nach "Walk The Line" - wieder mal als Schauspielerin zu sehen sein wird.
Über das neue Album sagt Shelby Lynne, dass heutzutage "alles unecht und gekünstelt" sei, sie aber möchte "real" sein - mit ehrlichen Songs, die sich "hinter nichts verstecken". Das klingt nicht nach aufwändiger Studio-Kosmetik, ganz im Gegenteil. Und tatsächlich spielten bei den Sessions zu "Shelby Lynne" die üblichen klangtechnischen Schönfärbereien des modernen Studio-Schminkkoffers keine hörbare Rolle. Selbst Overdubs lassen sich nicht ausmachen. Man nehme nur mal den Titel "Here I Am". Bei dem gut vier minütigen Track begleitet die Schwester von Allison Moorer nur ein akustisches Klavier, aufgenommen angeblich nur von einem einzigen Mikrofon. Sie wollte "real" sein - sie ist es! Selbst kleine Schwankungen in der Modulation oder im Timing der Piano-Begleitung nahm man billigend in Kauf, um die vielbeschworene "Magie des Moments" einzufangen. Realer geht's nicht…
Shelby Lynne ist gesanglich eine Klasse für sich
In vielen Songs übernimmt Shelby Lynne selbst die gesamte Instrumentierung, spielt Gitarre, Bass, Schlagzeug, Keyboards und greift auch mal zum Saxophon. Gelegentlich aber stehen ihr Könner wie Benmont Tench, Billy Mitchell und Ed Roth zur Seite. So gut diese Studio-Cracks sein mögen: Auf "Shelby Lynne" gibt es vor allem Shelby Lynne, die Sängerin, zu hören. Wie grandios die 51-Jährige phrasiert, die Dynamik dosiert und dazu mit den verschiedensten Stilrichtungen zu jonglieren weiß, zeigt sie beispielsweise perfekt in dem Song "Weather". In der im getragenen Sechs-Achtel-Groove angelegten Ballade vermengt sie lässig und gekonnt Stilmittel aus Soul und Jazz mit Folk und Gospel. Das Resultat ist ein Song, der gleichzeitig in eine Bar- und in eine Kirche passt. Darüber hinaus gibt der Track ein gutes Beispiel dafür ab, dass Musik Spannung braucht. Im Falle von "Weather" entsteht sie durch, simpel gesagt, Bremsen und Gas geben. Während ihre Begleiter an Klavier, Kontrabass, Akustik-Gitarre und Schlagzeug stoisch und zurückhaltend agieren, drückt Shelby Lynn - mit zunehmender Dauer des fast fünfminütigen Titels - tüchtig auf die Tube.
Etwas konventioneller steigt sie in das Album ein. "Strange Things" heißt der Track, der in seiner melancholisch-düsteren Atmosphäre an eine Unplugged-Version des Don Henley-Klassikers "A New York Minute" erinnert. Starke Performance! Das gilt freilich auch für das anschließende, sehr schwarze, sehr soulige "I Got You". Ein Titel, der mit seinem federnden Groove und den geschmeidigen, soul-jazzigen Harmonien glatt an Aretha Franklin, oder an Dionne Warwick während ihrer Burt-Bacharach-Phase denken lässt. Mit Song Nummer drei, "Love is Coming", speckt die Künstlerin erstmal tüchtig ab: Kaum Noten, fast nur Pausen. Ab und an ein Klavier-Akkord und ein schüchtern gezupfter Kontrabass – zusammengehalten vom fantastischen Gesang Shelby Lynns. Wie bei den meisten Titeln der CD klemmt auch hier jede Stilschublade.
Eindeutiger ist die musikalische Zuordnung bei "Off My Mind", dem ernüchternden "Don't Believe In Love” und dem ebenfalls nicht gerade Mut machende "Lovefear". Alle basieren sie, mal mehr, mal weniger, im Retro-Soul der 60er-Jahre, als Wilson Pickett und Otis Redding in Muscle Shoals den Gold-Standard des Genres definierten. Wie mutig Shelby Lynne im 31. Karrierejahr geworden ist, zeigt sich auch im sechs Minuten, 46 Sekunden langen Track "The Equation": einem knurrenden Jazz-Bass-Intro folgt viele Takte lang harmonische Monotonie - zwei Akkorde, Gesang, eine brave Akustik- und eine durchgeknallte E-Gitarre. Aufgenommen ist das alles à la Homerecording.
Fazit: Auf ihrem selbstbetitelten Album "Shelby Lynne" zeigt die Grammy-Gewinnerin erneut, was sie drauf hat: Songs mit Tiefgang und Herzenswärme - fantastisch interpretiert.
Label: Everso (Membran) | VÖ: 10. April 2020 |
01 | Strange Things |
02 | I Got You |
03 | Love is Coming |
04 | Weather |
05 | Revolving Broken Heart |
06 | Off My Mind |
07 | Don't Even Believe in Love |
08 | My Mind's Riot |
09 | Here I Am |
10 | The Equation |
11 | Lovefear |