Völlig zu Recht. Denn erneut gelingt der stimmgewaltigen und dabei doch so zerbrechlich klingenden Künstlerin ein exzellentes Werk. Erneut aber spielt Country im musikalischen Gesamtbild nur eine untergeordnete Klangfarbe. Kenner wissen, dass das nicht immer so war. In den späten 80er Jahren, als sie mit "Sunrise" stark aber kommerziell unauffällig debütierte, spielte sie noch mit Verve die Country-Karte aus. Egal, einem Künstler muss man Entwicklung und auch Erneuerung zugestehen. Vor allem einer Künstlerin wie Shelby Lynne.
Man muss jetzt nicht wieder die genauso tragischen wie unfassbaren Ereignisse ihrer Biografie aufwärmen. Zu oft wurde darüber schon geschrieben. Dennoch spielt der Tod ihrer Eltern bis heute in ihr Repertoire, in ihre Musik hinein. Wie könnte es auch anders sein? Das erklärt, warum Shelby Lynne nie zu einer so unbeschwert fröhlichen, sexy Country-Projektionsfläche werden konnte - und damit auch nie zur kommerziellen Überfliegerin. Dafür aber hat sie mit jedem neuen Album an Kontur und Phrasierungskunst dazu gewonnen. Mit "I Can't Imagine" markiert sie vielleicht sogar einen neuen Zenith ihrer Vortragskunst. Man nehme nur den metaphernreichen Opener "Paper Van Gogh", über den sie sagt, dass er eine Art Selbstportrait von ihr sei. Soulig, bluesig, vertrackt, synkopiert - aber auch voller Wärme, Gefühl und überraschenden Harmonieauflösungen. "Wir müssen alle unseren eigenen inneren van Gogh finden", behauptet sie mit einer Stimme, die immer öfter an Bonnie Raitt erinnert.
Im Gegensatz zur rotmähnigen Blues-Lady Raitt ist Shelby Lynne in vielen Genres zuhause. Im Zweifelsfall auch in einer luftig jazzigen Bleibe, wie sie mit "Back Door Front Porch" belegt. In dem tiefenentspannten, superlangsamen Dreivierteltakter vermengt sie komplexen Jazz mit filigranem Folk. Kein Wunder, dass sie mit dieser Rezeptur an Rickie Lee Jones und Joni Mitchell erinnert. Dass aber auch im Hause Lynne gelegentlich die Sonne scheint, belegt sie mit dem richtig fröhlichen "Sold The Devil (Sunshine)" - ein souliger Folk mit einer sehr starken Prise Calypso-Frohsinn gewürzt. Natürlich wird auch hier aus ihr noch kein angeheiterter Jimmy Buffett und auch kein, die Füße im türkisfarbenen Meerwasser baumeln lassender Kenny Chesney - doch die Sonderration Unbeschwertheit steht ihr richtig gut.
Neben weiteren, mit jazzigen Harmonien angereicherten Folk-Songs ("Son of a Gun", "Following You") und einer echten großen Pop-Ballade ("Love Is Strong", gemeinsam mit Ron Sexsmith geschrieben) geht sie für zwei Tracks auch mal auf Hippie-Retro-Kurs: Das knapp fünfminütige "Down Here" erinnert mit seiner bekifften Sessionartigkeit, einem ausufernden Gitarrensolo und dem recht rabiaten Folk-Ansatz verdächtig an Crosby, Stills, Nash & Young während deren "Déjà Vu"-Phase. Starker Track! Die frühen Helden des Folk-Rock drängen sich dann wenig später nochmals auf: das perkussive World-Music-Gebräu von "Be In The Now" lässt mit seiner markanten Refrain-Melodie schnurstracks an "Love The One You’re With" denken. Nicht die schlechtesten Referenzen.
Fazit: Exquisiter Folk-Rock mit vielen Zutaten - und einer Sängerin in der Blüte ihrer Kunst. Shelby Lynne ist, wenn auch kommerziell nicht bestätigt, längst eine Klasse für sich.
Label: Rounder (Universal) | VÖ: 8. Mai 2015 |
Titelliste
01 | Paper Van Gogh | 06 | Love Is Strong |
02 | Back Door Front Porch | 07 | Better |
03 | Sold The Devil (Sunshine) | 08 | Be In The Now |
04 | Son of a Gun | 09 | Following You |
05 | Down Here | 10 | I Can't Imagine |