Warme Worte liest man ja häufiger in den Waschzetteln zu neuen Tonträgern. Nicht selten wird das Normale da zum Spektakel hochgejazzt. Bei Ryan Bingham und "Watch out for the Wolf" liegen die Dinge aber anders. Denn diese Wildheit, dieses Abenteuerliche und Spirituelle klingt in jedem der sieben Tracks unüberhörbar durch: die EP ist deshalb auch nicht so richtig mit den üblichen Beurteilungskriterien zu messen. Sie entzieht sich den Konventionen, den gängigen Gradmessern. Schon alleine dafür muss man dem Musiker und Schauspieler ("Yellowstone") großen Respekt zollen.
In der Wildnis entstanden: "Watch out for the Wolf"
Aber auch für die Entstehungsgeschichte dieser EP. Nach eigenen Angaben hat er sich dafür in einer Blockhütte in der Wildnis von Montana eingeigelt. Ganz alleine, nur auf sich gestellt. In den Liner-Notes listet er das für die Aufnahmen verwendete Equipment auf: Neben den gängigen Homerecording-Tools (Laptop, Interface, Mikros, Gitarren, Mandolinen und Keyboard) nennt er auch: Feuerholz, einen Erste Hilfe Kasten, einen Haufen kaltes Bier, Wanderstiefel, eine Magnum und seinen Hund. Plus: unendlich viele Sterne, Sonne, Mond, Geister sowie "seltsame, unerklärliche, beschissene Geräusche" und schließlich: "40 Jahre eingesperrte Emotionen und ein berstendes Herz."
Wow, das klingt nach Bestandsaufnahme. Nach einer Klausur, nach einem intensiven Dialog mit seinem Ich. Kein Wunder, dass die meisten der sieben Titel eine sphärische, hypnotische, mal gruselige, mal euphorische Aura umwehen. Nein, das ist keine Schonkost für verweichlichte Mainstream-Radio-Ohren, sondern Musik, die schonungslos ganz und gar aus dem innersten Herzen kommt. Eine archaische Angelegenheit, die durchaus irritierende Momente bereithält.
Das gilt bereits für den Opener "Where My Wild Things Are": Die knapp vier Minuten Spielzeit füllt Ryan Bingham hier, wenn sich der Autor dieser Zeilen nicht verhört hat, mit gerade mal zwei wiederkehrenden, stur im Achtel-Groove geschrammelten Akkorden. Es fällt aber kaum auf, dass der Song nur zwei Griffe benötigt, denn in dem angedeuteten Refrain verändert er die Gesangsmelodie so geschickt, dass man glaubt, eine harmonische Wendung zu hören. Beim ersten Hördurchgang mag dieser Track, in dem er immer wieder mal ein nicht gerade fröhliches Pfeifen ertönen lässt, den Hörer verwirren. Man wartet: was kommt da noch? Lässt man sich aber auf diese sphärisch-schöne Monotonie ein, entwickelt der Song einen hypnotischen Sog, dem man sich nicht so leicht entziehen kann.
Der Opener gilt für die weiteren Titel als Richtschnur. Das zeigt sich bereits im nachfolgenden, ebenfalls fast vierminütigen Titel "Automated". Wieder gibt eine mit Achtelnoten angeschlagene Akustikgitarre die Marschrichtung vor, wieder reichen dem Grammy- und Oscar-Gewinner zwei, drei Akkorde, um seine gewünschte Vertonung seines Wildnis-Abenteuers in Szene zu setzen. Um eine Spur noch archaischer geht es in "Shivers" zu, ein Titel, der einen tatsächlich "erschauern" lässt und an die Gesänge der Nordamerikanischen Ureinwohner erinnert. Letzteres ließe sich auch über das perkussive, eine Minute, 45 Sekunden lange anschließende Instrumental sagen – würde Bingham den Track nicht mit harten E-Gitarren-Riffs rockig aufladen: eine fulminante Mixtur mit ganz eigenem Reiz.
Ryan Bingham: die EP ist Ergebnis einer "spirituellen Transformation"
Wild und rau geht es auch bei den restlichen drei Tracks von "Watch out for the Wolf" zu: "River of Love" hält einen knochentrockenen Rock-Beat, maximal wenig Harmoniewendungen und minimalistisches Folk-Feeling bereit, "Devil Stole My Style" besticht durch reduziert-düsteres Americana und das finale "This Life" überzeugt als kitschfreie Selbstbetrachtung. Dieses Leben, sein Leben - der Mann hat die Einsamkeit in der rauen Natur zu einem erstaunlichen Selbstfindungstrip genutzt. Natürlich hält er nach dieser Grenzerfahrung auch so manche Weisheit bereit. Ein Hinhören auf seine Texte lohnt sich also - lohnt sich im Falle von Ryan Bingham aber ohnehin immer. "This Life" setzt den idealen Schlusspunkt der EP. Ein Song, der mit schleppendem Bumm-Zack-Bumm-Zack-Beat an ein pochendes Herz erinnert, in dem eine Mandoline für Unbeschwertheit sorgt und in dem ihm noch einmal nach Pfeifen zu Mute ist - dieses Mal ist es eine wesentlich fröhlichere Melodie.
Fazit: Ryan Bingham, der Mann in den Bergen: "Watch out for the Wolf" ist das sieben Songs starke Ergebnis eines Selbstfindungstrips in der Wildnis von Montana. Sehr speziell - aber auch sehr intensiv.
Label: Bingham / Thirty Tigers (Membran) | VÖ: 11 August 2023 |
Disk 1 | |
01 | Where My Wild Things Are |
02 | Automated |
03 | Shivers |
04 | Instrumental |
05 | River of Love |
06 | Devil Stole My Style |
07 | This Life |