Kreativ. Unberechenbar. Immer für eine Überraschung gut. Aber auch: hoch talentiert. Sturgill Simpson wird zum Ausklang dieses Seuchen-Jahres seinem (guten) Ruf erneut gerecht. Nach überstandener Covid-19-Infektion topft er einen großen Teil seines imposanten Backkatalogs in ein neues, akustisches Bluegrass-Outfit um. Wie gut die Transformation in das neue Sujet gelingt, bewies er gerade erst mit "Cuttin' Grass, Volume 1 (Butcher Shoppe Sessions)". Jetzt legt er nach - mit den zwölf Songs von "Cuttin' Grass Volume 2 (The Cowboy Arms Sessions)".
Im Mittelpunkt dieser besonderen Bluegrassifizierung steht dieses Mal sein Grammy-geschmücktes Album "A Sailor's Guide to Earth". Sechs Songs stammen von dieser CD; weitere drei von seinem 2013 erschienenen Debüt-Album "High Top Mountain", den Rest steuern Titel aus seiner frühen Sunday-Valley-Band-Vergangenheit sowie bislang unveröffentlichte Songs bei. Von seinem letzten, eher brachialen Industrial-Experiment "Sound & Fury" hat sich - Überraschung! - wieder kein Song aufgedrängt.
Beginnen wir mit den neuen Songs. Da wäre zum einen "Tennessee". Ein ruhiger, betörend schöner Country-Folk, der Simpson als grandiosen Storyteller und nicht minder begabten Sänger ausweist. Selten hörte man den Country-Sonderling so traditionell, selten aber auch so ergreifend authentisch und gefühlvoll. Falls der besungene Bundesstaat mal nach einer eigenen Hymne suchen sollte: Simpsons fein gestricktes Liebeslied an die Südstaaten-Region bietet sich dafür an.
Eine kleine Sensation: Sturgill Simpson schrieb mit Merle Haggard einen Song
Für die größte Schlagzeile des Albums sorgt indes der letzte Track des Albums: "Hobo Cartoon" heißt der Song, den - man höre, staune und freue sich - Simpson gemeinsam mit Merle Haggard geschrieben hat. Ja, meine Damen und Herren, der vergleichsweise junge Country-Star hat gemeinsame Sache mit der 2016 verstorbenen Legende gemacht. Das ist: ein Knaller. Mindestens. In einem kürzlich erschienen Interview verriet Simpson, wie es dazu kam: "In den letzten zwei Lebensjahren von Merle hatte ich viel Kontakt mit ihm. Er hat mich oft angerufen und wir haben meist sehr lange geplaudert." Eines Tages habe ihm Haggard einige Textzeilen zu "Hobo Cartoon" geschickt, mit der Bemerkung: "From one railroad man to another". Haggard war, das als Hintergrundinfo, ein echter Railroad-Fan und Simpson arbeitete einst für die Bahn in Utah.
Sturgill Simpson hat den Song vervollständigt und ihn jetzt erstmals im "Cowboy Arms Hotel and Recording Spa" in Nashville aufgenommen. Als Bluegrass-Stück. "Vielleicht nehme ich den Titel irgendwann auch mal mit einer Band auf", meinte er, "doch für mich ist das momentan die schönste Art, dieses Kapitel abzuschließen." Wer will im wiedersprechen? In dieser spartanischen, von Akustikgitarre und Fiddle getragenen Version atmet der Track zu jeder Note den Geist der Country- und, ja klar, auch der Eisenbahn-Pioniere - und dazu den Spirit von der Ikone Merle Haggard: ein nostalgisches, rührseliges, zweieinhalbminütiges Song-Kleinod, das schon jetzt das Zeug zum Klassiker hat.
"Cuttin' Grass Volume 2 (The Cowboy Arms Sessions)": moderner Bluegrass mit Country-Touch
So geruhsam geht es natürlich nicht die ganze Zeit bei Simpsons zweiter Mäharbeit zu. Ganz im Gegenteil. Schon der Opener "Call to Arms" (von "A Sailor's Guide to Earth") drängt und treibt den Bluegrass-Rhythmus in synkopierter "Und-Betonung" und im halsbrecherischen ICE-Tempo voran. Hier bekommen Simpsons-Begleiter, die hier als "The Hillbilly Avengers" firmieren und zu den besten Picker Nashvilles zählen, reichlich Gelegenheit ihr Können unter Beweis zu stellen. Was Sierra Hull an der Mandoline, Scott Vestal am Banjo, Stuart Duncan an der Geige und Gitarrist Tim O'Brien an ihren Instrumenten anstellen, ist: Weltklasse!
Auch die nächsten weiteren drei Songs stammen aus "A Sailor's Guide to Earth": "Brace For Impact (Live a Little), das hübsche "Sarah" und das schon fast als Shanty angelegte "Sea Stories" sind so Bluegrass, dass man kaum glauben will, dass die Songs ursprünglich in einem ganz anderen Kontext erschaffen wurden. Das gilt auch für "Welcome to Earth (Pollywog)". Nach den ersten ruhig erzählten, balladesk gehaltenen Strophen ist Double-Time angesagt. Trotz flotten Galopps verliert das schlaue Rührstück nichts von seiner magischen Ausstrahlung.
Dass es Simpson und Mannen aber auch um eine Spur einfacher und rustikaler können, machen sie in dem flotten "Keep It Between The Lines" klar. Im flotten Blues-Outfit dürfte der Song live - sollte so etwas irgendwann mal wieder möglich sein - jeden Club zum Ausrasten bringen. Das sollte auch "You Can Have The Crown" gelingen. Wieder, denn der Song von Simpsons hochgelobten Debüt-Album "High Top Mountain" (2013) hat sich längst als Publikumsliebling bewährt. Hoch im Fan-Kurs steht auch "Jesus Boogie". Der gefühlvolle Track erinnert an Simpsons Zeit, als er noch mit seiner Band "Sunday Valley" unterwegs und von Grammys und Star-Status noch weit entfernt war. Schon da aber zeigte sich, wie wir jetzt hören können, sein grandioses Händchen für Melodien und Texte.
Fazit: Sturgill Simpson schneidet wieder Gras, und zwar Bluegrass: Mit "Cuttin' Grass Volume 2 (The Cowboy Arms Sessions)" pustet er jede Patina vom traditionellen Genre. Mit zwölf Tracks komprimierter, straffer und damit noch glatt um einen Tick besser als "Cuttin' Grass, Volume 1 (Butcher Shoppe Sessions)".
Label: Hi Top Mpountain / Thirty Tigers (Membran) | VÖ: 18. Dezember 2020 |
01 | Call to Arms |
02 | Brace for Impact (Live a Little) |
03 | Oh Sarah |
04 | Sea Stories |
05 | Hero |
06 | Welcome to Earth (Pollywog) |
07 | Jesus Boogie |
08 | Keep It Between the Lines |
09 | You Can Have the Crown |
10 | Tennessee |
11 | Some Days |
12 | Hobo Cartoon |