Es stellt sich daher die Frage, ob es sich wirklich um ein Bluegrass-Album handelt. "Nun, darüber habe ich auch öfters nachgedacht", gab Haggard, der 1970 von der CMA zum Entertainer des Jahres gewählt wurde, zu. "Das ist eine gute Frage. Sie verdient sicherlich eine Antwort. Ich weiß jedoch nicht, ob ich dazu berechtigt bin, sie zu beantworten, weshalb ich dies den Zuhörern überlassen werde."
Die Meinung der Leute war immer wichtig für Haggard, dem Verfasser des "Working Man Blues" und anderer Hymnen an die Weisheit und Stärke der Arbeiter in Amerika. Seine Musik in die eine oder andere Kategorie einzuordnen, stellt für ihn nicht unbedingt eine Priorität dar. Daran dachte er sicherlich auch nicht, als er sich mit einer Gruppe von All-Star-Musikern für zwei Tage im Studio von Ricky Skaggs bei Nashville traf, um diese Tracks aufzunehmen.
"Wir hätten tiefer in den Bluegrass-Stil eindringen können", überlegte er. "Wir hätten harmonische Gesänge hinzufügen können, da wir lauter gute Harmoniesänger hatten. Wir hätten es so oder auf eine andere Weise tun können. Aber man kann mich halt nicht mehr ändern. Ich bin 70 Jahre alt, also hat sich Merle Haggard einfach mit einigen guten Bluegrass-Spielern zusammengesetzt und ein Album aufgenommen. Es war die gemeinsame Entscheidung von Ronnie, Marty und mir, es unverändert zu lassen, da das, was wir gespielt hatten, frisch und ungeprobt war. Und dieses Album ist eben das Ergebnis."Ronnie Reno und Marty Stuart gehörten zu den Musikern der "Bluegrass Sessions", zusammen mit jüngeren Künstlern, die ebenfalls starke Wurzeln in der Bluegrass-Musik haben. Einige von ihnen kannten Haggard noch nicht. Reno war jedoch neun Jahre lang Mitglied von Haggards erster Band, "The Strangers", was ihn zusammen mit der tiefen Verbindung seiner Familie zur Bluegrass-Musik in eine Schlüsselposition für dieses Album brachte.
"Als ich von 1972 bis ´81 Mitglied der "Strangers" war, spielte Merle viel auf der Fiedel", erklärte Reno. "Natürlich spielte er zu dieser Zeit sehr wie Bob Wills, aber er kannte eine Menge alter Breakdowns, die mir auch aus der Bluegrass-Musik vertraut waren. Wenn wir also mit dem Bus auf Tour waren, spielten und sangen wir Songs wie "Molly and Tenbrooks" oder "Love, Please Come Home". Wir sprachen viel über die alten Zeiten, als er meinen Vater Don Reno und seinen Partner Red Smiley im Radio hörte."
"Ronnie arbeitete mit Sonny und Bobby Osborne zusammen, als ich ihn engagierte", erinnert sich Haggard. "Ich habe von Ronnie eine Menge über Bluegrass gelernt, über das eigentliche Wesen dieser Musikrichtung. Als die Zeit schließlich reif für dieses Album war, rief ich ihn einfach an. Und dann ging es los."
Abgesehen davon, dass er ihn bat, Stuart einzuladen, überließ Haggard es im Wesentlichen Reno, die Band zusammenzustellen und die Logistik auszuarbeiten. Schon früh wurde es bei diesem Projekt klar, dass ein klassischer Bluegrass-Ansatz unwahrscheinlich wäre. "Wir haben mehrmals versucht, Material auszusuchen", sagte Reno, "aber wir kehrten immer zu den neuen Songs zurück, die Merle gerade schrieb."
"Wir dachten schon daran, uns auf die Standards zu beschränken", erklärte Haggard, "aber es machte einfach nicht viel Sinn für uns. Ich bin Merle Haggard, das ist Bluegrass-Musik und warum kann es nicht etwas Neues sein? Also nahmen wir einfach die Songs, die ich geschrieben hatte."Sie entschieden sich für eine Mischung aus klassischem und neuem Material. "Big City" wurde teilweise deshalb in das Album aufgenommen, weil Haggard die Bluegrass-angehauchte Version schätzte, die IrisDeMent zum Haggard-Tribute Album, "Tulare Dust: A Songwriter´s Tribute to Merle Haggard" beitrug. "Hungry Eyes" findet man ebenfalls auf dem Album, mit ergreifenden Harmoniegesängen von Alison Krauss. Zu den Highlights seiner Neukompositionen gehören "Pray", ein meditatives Lied im Walzer-Rhythmus über die Liebe, das Haggard zusammen mit seiner Frau Theresa als Versöhnung nach einem Streit schrieb, und "What Happened", eine gleichzeitig lustige wie traurige Reflektion über den Verlust der Unschuld der USA.
"Ich schrieb diesen Song vor ein paar Jahren, nachdem ich meine Frau über die Weihnachtsferien ins Krankenhaus gebracht hatte", erklärte er. "Ich war auf dem Rückweg von der Bay Area in meinem Hummer, als ein wirklich wilder Sturm die Interstate 5 traf. Ich musste durch diesen Hurrikan mit all den LKWs um mich herum und einem Gegenwind von 100-115 Kilometern fahren, als ich plötzlich die Inspiration zu diesem Song hatte. Ich brauchte drei Stunden, bis ich dieses Lied inmitten des Sturms fertig hatte. Songwriter wissen nie, wann sie eine großartige Inspiration haben werden. Wenn dies geschieht, darf man sie einfach nicht verpassen."
Haggard erschien spät morgens im Studio mit seiner Liste von Songs, seiner Gitarre und dem Vertrauen darauf, dass Reno die richtige Zusammenstellung von Musikern gefunden hatte. Es dauerte nicht lange, bis sich ein Gefühl der Verbundenheit einstellte, obwohl noch ein gewisses Maß an kreativem Arrangement nötig war, um alles über die Bühne zu kriegen.
"Merle entkrampfte einfach die Stimmung, als er ins Studio kam, sich hinsetzte und sagte, 'Diesen Song möchte ich machen'", berichtete Resonanzgitarren-Spieler Rob Ickes. "Das war 'Pray'. Er sang ein wenig davon vor, und es war perfekt. Dann kam Marty und erklärte: 'Wie wäre es denn damit?'. Er spielte ein Wahnsinns-Mandolinenintro, und alles passte zusammen."
Danach begab sich jeder mit großer Spannung in seine Isolierkabine, um seinen ersten Track aufzunehmen. Es ist jetzt nicht mehr genau nachzuvollziehen, was bei diesem Song geschah, aber irgendetwas stimmt von Anfang an nicht. Die Energie, die sie verspürt hatten, als sie im selben Raum spielten, war nicht so einfach anzuzapfen, wenn sie alle voneinander getrennt und außer Sicht waren.
Dann hatte Stuart eine Idee. "Er sagte: 'Hey, hol´ mal das Mikro in die Mitte des Raums. Lasst uns einen Kreis um dieses Mikro bilden und sehen, was dabei herauskommt'. Genau das taten wir dann auch", erinnert sich Haggard. "Ich befand mich an einem Ende des Kreises, und wir spielten diese Melodien so, als ob wir in Ihrem Wohnzimmer wären. Es gab keine Overdubs, nichts von diesem Mist. Es war alles live. Es gab einige kleine Unsauberheiten hier und dort, aber wir spielten so gut wie wir konnten und es fühlte sich gut an."Ab diesem Zeitpunkt ging es bei den "Bluegrass Sessions" weniger darum, einen Musikstil anzuwenden, sondern die Musiker versuchten vielmehr, den kreativen Prozess einfach laufen zu lassen, ohne vorgefasste Meinungen. Trotzdem besteht Reno darauf, dass die Musik vielleicht nicht der Form, aber dem Geist nach reiner Bluegrass ist. "Eine gute Bluegrass-Band hat immer einen gewissen Drive in ihrer Musik", erklärte er. "Nachdem Merle das Tempo festgelegt hatte, gibt er den Drive mit seiner Stimme vor. Daher wusste ich, dass die Musiker sich an ihn anpassen und sogar noch ein wenig extra Energie hineinlegen würden."
Der Bluegrass-Star Del McCoury, der die "Bluegrass Sessions" als drittes Album auf seinem McCoury-Musiklabel veröffentlichte, stimmt dem zu. "Ist dies ein echtes Bluegrass-Album? Nun, zumindest ist es ein echter Merle, oder?", sagte er lachend. "Es kommt nicht darauf an, welche Art Band es ist. Man sollte sich diesen großartigen Sänger mit seinen fantastischen Songs einfach anhören. Nur das zählt."