Ihr Start ins Leben verlief tragisch. Sie war gerade mal ein Jahr alt, als sich ihre Mutter das Leben nahm. So wuchs sie auf einer Farm in der Nähe von Nashville auf, gemeinsam mit ihrem Vater John, dessen dritter Ehefrau und mit zwei Geschwistern. Weitgehend: heile Welt. Auch weil ihr Daddy erfolgreich den Alkoholentzug hinbekam. Mit zwölf Jahren bekam sie ihre erste Gitarre, 2006 machte sie an der Universität von Denver ihren Abschluss in Psychologie. Unterm Strich sind die besten Voraussetzungen für Songs und Stories jenseits ausgelatschter Pfade. Mit vier wohlwollend von der Kritik aufgenommenen Alben löste sie bisher das Versprechen ein - ohne jedoch den kommerziellen Durchbruch zu schaffen.
Weiter auf Emanzipationskurs: Lilly Hiatt
Vielleicht gelingt das der 1984 in Los Angeles geborenen Sänger und Songschreiberin ja jetzt mit "Walking Proof". Ganz schlecht sollten die Chancen dafür jedenfalls nicht stehen. Aus verschiedenen Gründen: Zum einen hat Lilly Hiatt mit Ex-Cage The Elephant-Gitarrist Lincoln Parish einen kompetenten, dennoch unverbrauchten Wegbegleiter gefunden. Zum anderen präsentiert sie auf den elf neuen Songs ein paar klangvolle Namen, darunter Amanda Shires, Aaron Lee Tasjan und - erstmals in ihrer Karriere - ihren raubeinigen Vater. Als größten Trumpf im Ärmel aber ist ihr Talent als Songwriterin und Sängerin zu nennen. So hat Lilly Hiatt nicht nur ein gutes Händchen für griffige, runde und trotzdem originelle Songs. Ihr gelingt mit "Walking Proof" auch das Kunststück, eine individuelle akustische Duftnote zu etablieren: ein Sound, der rockige Gitarren-Riffs und subtile Folk-Melodien unter einen Hut bringt.
Schon mit dem Opener "Rae" bekommt man eine Ahnung davon. Nach einem knapp einminütigen Intro - nur E-Gitarre und Stimme - gesellen sich eine Rhythmus-Gruppe, eine Orgel, ein solider Beat und dazu außergewöhnlich schöne Akkorde und Melodien. Folk, Folk-Rock, Pop, Rock. Alles da. Alles verwoben. Als Bindeglied und Wegweiserin inmitten der musikalischen Winkel dient die Stimme von Lilly Hiatt. Hoch, sehr hoch, so hoch sogar, dass man Kontrollverlust und damit ein sich überschlagendes Kreischen befürchten muss.
Grundlos, wie sich schnell herausstellt. Lilly Hiatt ist in ihren acht Karrierejahren offenbar zu einer souveränen, charismatischen Performerin gereift. Schon der Auftakt-Song gibt darüber Auskunft.
Gesellenstück mit elf meisterhaften Songs: "Walking Proof"
Mit jedem nachfolgenden Track untermauert sie diesen Eindruck: Im Vintage-Beat von "Little Believer", im ruhigen, langsamen Country-Rock von "Candy Lunch", in der melodisch höchst gefälligen Folk-Perle "Drawl" und natürlich auch in Songs, die von der Spannung aus harten Gitarren-Riffs und weichen Melodiebögen leben - wie "Brightest Star" und "P Town".
Songwriter-Fürst und Papa John ist übrigens bei einem Song namens "Some Kind of Drug" mit von der Partie. Welchen Part Daddy dabei allerdings übernimmt, bleibt rätselhaft. Seine Reißnägel-Stimme lässt sich in dem rockenden Midtempo-Song jedenfalls nicht ausmachen. Gut so. Er überlässt das Spotlight ganz und gar seiner Tochter. Er hatte ja ohnehin genügend davon…
Fazit: Mal beherzt, mal subtil: Der Folk-Rock von Lilly Hiatt besticht auf den elf Songs ihres neuen Albums "Walking Proof" mit Qualität und eigener Note. Daddy John Hiatt darf getrost in Rente gehen.
Label: New West / PIAS (rough Trade) | VÖ: 27. März 2020 |
01 | Rae |
02 | P-Town |
03 | Little Believer |
04 | Some Kind of Drug (mit John Hiatt) |
05 | Candy Lunch |
06 | Walking Proof (mit Amanda Shires) |
07 | Drawl (mit Amanda Shires) |
08 | Brightest Star |
09 | Never Play Guitar (mit Aaron Lee Tasjan) |
10 | Move |
11 | Scream |