Herrje, wer hat ihr denn zu diesem Covermotiv geraten? Da sitzt die blonde, blauäugige Lauren Alaina, ziemlich unentschlossen guckend, auf einem Plüsch-Sofa. Oberteil: ein, nun ja, türkisfarbiges Korsett, eng, zu eng. Die Hände unmotiviert auf den dunkelblau behosten Schenkeln ruhend. Das alles ergibt keinen Sinn. Oder etwa doch? Soll das Motiv "Sitting Pretty on the Top of the World", was ja eigentlich nur ironisch gemeint sein kann, irgendwas konterkarieren oder unterstreichen oder ... Ach was soll's. Ist ja nur ein Cover...
Lauren Alaina: auf die inneren Werte einer CD kommt es an
Uns interessieren ja die inneren Werte einer CD - und daran gibt es bei "Sitting Pretty on the Top of the World" nicht viel zu mosern. Die 1994 in Rossville, Georgia, geborene Sängerin, die 2011 - mit ihrem zweiten Platz bei "American Idol" (hinter Scotty McCreery) - den Durchbruch geschafft hat, beweist in den 15 Titeln, dass man mit ihr immer noch rechnen muss. Vielleicht sogar: mehr denn je. Denn bei dem Album stimmt so ziemlich alles. Die erfreulich transparent produzierten Songs gehen sehr geschmeidig ins Ohr, sie verströmen eine lässige Country-Leichtigkeit und verbreiten binnen weniger Takte gute Laune. Vor allem, da Lauren Alaina als Sängerin völlig überzeugt.
Es zeigt sich, dass die heute 26-Jährige von den Großen der Genres gelernt hat, dass sie von ihnen inspiriert wurde und immer noch wird. Allen voran nennt sie Dolly Parton und Reba McEntire. Nicht die schlechtesten Lehrmeisterinnen. Doch Lauren Alaina ist keine passionierte Wurzelforscherin. Sie ist ein junges, typisch amerikanisches Mädchen, mit den typischen Wünschen, Sehnsüchten und Problemen. Im Gegensatz zu manch anderen Sängerinnen ihrer Generation bekennt sich Lauren Alaina auch zu dunklen Phasen ihrer Biografie. So gibt sie beispielsweise zu, als Teenager sechs Jahre unter Bulimie gelitten zu haben. Das Meistern dieser Krankheit hat sie, jede Wette, stärker gemacht - und glaubwürdiger als facettenreiche Künstlerin.
Genau das ist es ja, was uns an manchen Acts so gefällt. Oder auch kalt lässt. Die Frage: meint er oder sie es ernst? Kann man ihm oder ihr die in Songs häufig beschriebenen Emotions-Eruptionen abnehmen - oder klingt zwischen den blitzsauberen Noten kaltes Kalkül durch? In ihrem Falle darf man getrost zu ersterer Version tendieren. Warum? Schwer zu sagen. Es sind nur Nuancen, die man vielleicht gar nicht bewusst wahrnimmt, wenn sie beispielsweise im Titeltrack ihre berührende Coming-of-Age-Geschichte erzählt. Ohnehin: ein klasse Track, der mit größtenteils akustischen Instrumenten auskommt und im Sechs-Achtel-Metrum angelegt ist und damit traditionelles Country-Feeling aufkommen lässt.
Ähnlich konzipiert und genauso großartig ist der Opener "It Was Me". In dem langsamen Country-Folk-Track erinnert sie mit ihrer Vokal-Performance tatsächlich an all' die großen Stimmen, die Music City USA jemals hervorgebracht hat. Mag sein, dass das übertrieben klingt. Aber wer es nicht glauben will, sollte einmal reinhören. Es ist alles da an Power, Phrasierungskunst und Dynamik. Nichts fehlt. Das eher unaufdringliche, eher in den Hintergrund geschobene Arrangement tut sein Übriges, um die Country- und Gospel-gestählte Stimme von Alaina in den Vordergrund zu rücken.
Gelungenes Comeback und starkes Ausrufezeichen: "Sitting Pretty on the Top of the World"
Aber wie gesagt, wir haben es hier mit einem Twen Mitte 20 zu tun. Da ist es schon klar, dass sie auch Pop und auch Rock kann. Man nehme nur das im Midtempo, mit größerem Geschirr angelegte "If The World Was a Small Town", das coole, einen Tick laszive und in der Harmonieführung an Lady A. erinnernde "Same Story, Different Saturday Night" oder "Run", die temperamentvolle Abrechnung mit ihren Ängsten und inneren Dämonen.
Wie souverän die Sängerin mittlerweile mit verschiedenen Stilen und Sounds umgehen kann, zeigt sie in dem souligen, sehr gelungenen Duett mit Lukas Forchhamer von der dänischen Formation "Lukas Graham" "What Do You Think Of?" Neben weiteren Titeln, die deutlich über dem Qualitäts-Durchschnitt aktueller Nashville-Produktionen liegen, wie die Ballade "I'm Not Sad Anymore", der kesse, im Sechs-Achtel-Takt gehaltene Country-Pop von "You Ain't a Cowboy" oder das Balladen-Duett "Getting Over Him" mit Jon Pardi - hält sie noch einen künstlerischen Ritterschlag bereit: Bei dem folky Country-Song "Getting Good" teilt sie sich das Mikro mit keiner Geringeren als Trisha Yearwood. Tja, und die zwei Vokal-Asse verschiedener Country-Generationen geben da einfach ein grandioses Pärchen ab.
Fazit: Das Casting-Sternchen ist erwachsen geworden: Lauren Alaina beweist auf "Sitting Pretty on the Top of the World" künstlerische Klasse, stimmliche Qualität und eine erstaunlich stilistische Bandbreite. Ein Top-Album, dem das misslungene Cover keinesfalls gerecht wird.
Label: Mercury Nashville (Universal) | VÖ: 3. September 2021 |
01 | It Was Me |
02 | If The World Was a Small Town |
03 | Getting Good (mit Trisha Yearwood) |
04 | Same Story, Different Saturday Night |
05 | On Top of the World |
06 | Run |
07 | What Do You Think Of? (mit Lukas Graham) |
08 | I'm Not Sad Anymore |
09 | Getting Over Him (mit Jon Pardi) |
10 | Good Ole Boy |
11 | When The Party's Over |
12 | You Ain't a Cowboy |
13 | Goodbye Street |
14 | Written in the Bar |
15 | Change My Mind |