Ha! Vor neun Jahren haben wir in der Besprechung über Sarah Watkins' zweites Solo-Album "Sun Midnight Sun" noch davon geschrieben, dass sie eine erklärungsbedürftige Künstlerin sei. Da mussten wir noch weiter ausholen und ihre - natürlich damals bereits ruhmreiche und mit Grammys versehene - Band-Vergangenheit (Nickel Creek) bemühen und freilich auch, dass Bluegrass-Star Chris Thile mit von der Partie war. Wir notierten damals, dass sie als Solo-Künstlerin noch auf ihren Durchbruch wartet, dass der aber bestimmt noch kommen werde. Schließlich biete sie "Musik von zeitloser Schönheit". Wir sollten Recht behalten...
Sarah Watkins überführt Bluegrass in die Neuzeit
An letzterem Zitat aus unserer Besprechung hat sich bis heute nichts geändert. Sarah Watkins macht auch neun Jahre später noch Musik, die so zeitlos wie schön ist - und sich dazu vehement jeder Schubladenifizierung verweigert. Bluegrass? Klar! Aber auch irgendwie Americana und Folk und auch Jazz und Pop. Dazu gesellt sich stets ein erfrischender Experimentiergeist, der jedes Album zu einer Art Wundertüte macht. "Under The Pepper Tree" macht da keine Ausnahme. Auf dem von Tyler Chester (Sara Bareilles) produzierten Album erweitert sie ihren speziellen Klangkosmos um ein weiteres Segment: um Kinder- und Schlaflieder sowie um Klassiker und Evergreens der amerikanischen Pop- und Soundtrack-Geschichte.
Wer jetzt argwöhnt, Sarah Watkins verbreite auf "Under The Pepper Tree" infantile Klänge mit schepperndem Orff-Instrumentarium ist - natürlich! - schief gewickelt. Von putzigen "Backe, backe, Kuchen-" und "Alle meine Entchen"-Liedchen sind die hier aufgeführten 15 Tracks ihres neuen Albums so weit entfernt wie eine Fiddle von einer Blasmusikkapelle. Das macht schon mal der stimmungsvolle Opener "Pure Imagination" aus dem 70er Jahre-Film "Charlie und die Schokoladenfabrik" klar. In dem gut dreiminütigen Track stimmt sie den Hörer mit schwebenden Geigen, Glockenspiel und Feenstimme auf eine Reise in die Welt der Fantasie, der "puren Imagination" ein. Es ist: das Terrain von Kindern und Kleinkindern. Die Welt - ein einziges Abenteuer.
Ursprünglich hätte "Under The Pepper Tree", so wird gemunkelt, ohnehin ein reines Kinderalbum werden sollen. Mit Liedern, die sie selbst gerne als Kind gehört habe. Zu ihrer musikalischen Früherziehung haben, wie wir jetzt feststellen dürfen, nicht nur Gute-Nacht-und-schlaf-gut-Lieder wie das hier reduzierte, mit Banjo und Kontrabass aufgeführte "La La Lu" oder die abschließende, fast schon esoterisch-ruhige Einschlaf-Meditation "Good Night" aus frühen Beatles-Tagen gehört, sondern auch Klassiker der amerikanischen Pop-Geschichte.
Zum Beispiel "Edelweiss" aus dem amerikanischen Kult-Musical "Meine Lieder - meine Träume" um die Familie Trapp. Den gut 60 Jahre alten Musik-Klassiker interpretiert Sarah Watkins mit der nötigen Distanz: Sie zerlegt ihn zunächst in seine harmonischen Einzelteile bis nur noch der Kern des Kerns übrigbleibt, eine Fiddle sägt nostalgisch, dann kommt ein, an österreichische Volksmusik erinnernder Chor; nach gut einer Minute betritt Sarah Watkins mit ihrer unerhört klaren Stimme die Bühne. Begleitet wird sie von ihrer dreijährigen Tochter, die im Hintergrund babyhaft säuseln darf. Na klar, das ist süß. Notwendig ist es aber nicht unbedingt.
Musik für alle Generationen: "Under The Pepper Tree"
Im Anschluss an den Klassiker folgt: ein Klassiker. "Moon River". Im Original sang die verträumte Melodie 1961 Audrey Hepburn in dem Kult-Film "Frühstück bei Tiffany". Sarah Watkins geht natürlich ganz anders mit der 1961 geschriebenen Henry Mancini-Komposition um: Ein Kontrabass spielt in den ersten Takten nur ein paar Noten. Aber genügend, um diese Jahrhundertmelodie auszumachen. Dann gesellt sich aus weiter Ferne eine Orgel und schließlich: die Glockenstimme von Sarah Watkins. Ein verwegenes Arrangement, das aber einen derartigen Zauber verströmt, dass man den Song immer und immer wieder hören möchte. Eine Meisterleistung, keine Frage.
Bei einem weiteren Soundtrack-Song gibt es ein Wiederhören mit ihren früheren Band-Kollegen von Nickel Creek: Bei "Blue Shadows on the Trail" aus dem Film "¡Drei Amigos!" (mit u.a. Steve Martin). Man hört, man spürt, dass die Chemie zwischen Sarah Watkins, ihrem Bruder Sean und Szene-Star Chris Thile nach wie vor stimmt und für musikalische Ausnahmemomente sorgen kann. Wer weiß, vielleicht haben die drei ja irgendwann mal wieder Lust auf gemeinsame Sache? Vielleicht aber geht es auch mit "I'm With Her" wieder weiter. Bei dem von ulkigem Wild-West-Kitsch strotzenden Roy-Rogers-Klassiker "Tumbling Tumble Weeds" aus den 1940er Jahren geben Sarah Watkins, Sarah Jarosz und Aoife O'Donovan jedenfalls erneut eine Kostprobe ihrer fruchtbaren Zusammenarbeit.
Zu den weiteren Glanznummern von "Under The Pepper Tree" gehören die launige Interpretation von Harry Nilssons "Blanket For A Sail" (unter Mitwirkung von Taylor Goldsmith von Dawnes), Roy Orbisons' "Beautiful Dreamer" sowie "When You Wish Upon A Star" aus dem Disney-Film "Pinocchio". Alles irgendwie zeitlos - und zeitlos schön dazu.
Fazit: Sarah Watkins wird mit "Under The Pepper Tree" erneut ihrem Status als kreative Erneuerin des Bluegrass gerecht: eine musikalische Wundertüte, bei der es viel zu entdecken gibt.
Label: New West / PIAS (roughTrade) | VÖ: 26. März 2021 |
01 | Pure Imagination |
02 | The Second Star to the Right |
03 | Blue Shadows on the Trail |
04 | Edelweiss |
05 | Moon River |
06 | Under the Pepper Tree |
07 | When You Wish Upon a Star |
08 | Night Singing |
09 | La La Lu |
10 | Tumbling Tumbleweeds (mit I'm With Her) |
11 | Blanket for a Sail |
12 | Beautiful Dreamer |
13 | Stay Awake |
14 | You'll Never Walk Alone |
15 | Good Night |