Naomi und ihre Tochter Wynonna sind von dieser Hoffnung erfüllt, als sie Ende November die Tour "The Judds: The Last Encore" starten. Es ist die erste Tournee des wiedervereinigten Duos durch mehrere Städte seit ihrer Kurztournee im Jahr 2000. Man könnte der Versuchung erliegen zu meinen, dass diese Tour wenigstens teilweise durch Naomis emotionale Reaktion auf jenen Auftritt im LP Field 2009 möglich geworden ist. "Ich glaube, sie empfindet jedes Mal so", stimmt Wynonna am sonnenbeschienenen Küchentisch ihrer Mutter in Leipers Fork in der Nähe von Nashville zu. "Meiner Erfahrung nach fühlt sich meine Mom jedes Mal wie ein Kind im Süßwarenladen, wenn sie wieder im Rampenlicht steht. Sie ist in ihrem Element und will mehr."
"Ja, ich will mehr davon", stimmt Naomi zu. "Es ist wie mit dem, was die Leute darüber erzählen, wenn man zum ersten Mal Meth oder Crack nimmt: es ist so völlig überirdisch, dass du unbedingt mehr haben musst. Das ist der Moment, wenn du süchtig wirst. Du suchst dieses Gefühl dauernd." "Also", greift Wynonna diesen Gedanken auf. "Das heißt ich bin so was wie Crack?" "Ja", antwortet Naomi. "Mit der Ausnahme, dass du mir gut tust."
Die Judds haben vielen Menschen über Jahre gut getan. Beginnend 1984, wurden sie über einen Zeitraum von acht Jahren mit neun CMA Awards ausgezeichnet, darunter beachtliche sieben Mal als Vocal Group bzw. Vocal Duo of the Year. Mit einem überwiegend akustischen Setting zelebrierten sie Musik ("Turn It Loose", das von den Judds, William Bickhardt, Brent Maher und Don Schlitz geschrieben wurde), Weiblichkeit ("Girls Night Out" von Jeff Bullock und Brent Maher), Mutter-Tochter-Beziehungen ("Mama He's Crazy" von Kenny O'Dell) und Glauben ("I Know Where I'm Going" von Bickhardt, Maher und Schlitz). Ihr Werk umfasst 14 Nr. 1 Singles und mehr als 20 Millionen verkaufte Alben. Und sie faszinieren die Fans durch eine ungewöhnliche Aufrichtigkeit in Bezug auf ihre familiäre Situation: hier lebt eine rebellische Tochter bei ihrer sehr beschützenden Mutter, mit der sie zusammen arbeitet und künstlerisch tätig ist. Es ist verständlich, dass selbst auf der Höhe ihres Erfolges als Duo diese Zusammenstellung zu vielen Spannungen führte. Damals verstanden sie das nicht ganz.
"Ich konnte es nicht aus Distanz betrachten", erinnert sich Wynonna. "Ich steckte zu tief drin. Ich war fast zufrieden damit, die Abhängigere zu sein. Ich musste nicht denken, ich musste nicht handeln - das hat Mom einfach gemacht. Sie sitzt da und macht ihre Notizen und Listen, und sie kümmert sich um die Garderobe und das alles, und ich tauche einfach nur auf. Ich bin wie das Herz und sie wie der Kopf des Unternehmens, in dem ich nur in Erscheinung trete, um zu singen, und zulasse, dass sie sich um so vieles kümmert. Das ist wie bei den Kindern, die sich jeden Tag von ihrer Mom das Essen machen lassen. Weißt du, mir hat nie jemand wirklich beigebracht, wie man sich sein eigenes Essen macht."
Wynonna war gezwungen, dieses Verhaltensmuster zu ändern in einem der berühmtesten Kapitel der Country Music-Geschichte über das Ende einer Karriere. Nachdem bei Naomi der Hepatitis-C-Virus (HCV) diagnostiziert worden war, ging sie noch ein letztes Mal als Judds-Duo auf Tournee. 1991 beendete das Duo seine Karriere, wodurch der Weg für Wynonnas Solokarriere geebnet wurde, die mit der Unterzeichung eines Vertrages mit Curb Records 1992 begann.
Wynonna war nun vor die Wahl gestellt, unterzugehen oder schwimmen zu lernen. Sie fand ihren künstlerischen Ausdruck schnell und integrierte R&B-Einflüsse in ihrer Musik. Mike Curb, Gründer und Vorsitzender von Curb Records, erinnert sich rückblickend an seine Reaktion auf eine ihrer frühen Singles, die von Jill Colucci, Stewart Harris und Sam Lorber geschrieben wurde. "No One Else on Earth – mit Hörnern?" wunderteer sich. "Ich bin mir nicht sicher, ob "No One Else on Earth" in irgendeiner Form Country war."
Aber es funktionierte bei den Country-Fans, die schließlich fünf Millionen Ausgaben des Albums "Wynonna" kauften, dem Flaggschiff einer Solokarriere, die ihresgleichen sucht. Der Hepatitis-C-Virus bei Naomi bildete sich schließlich zurück, und sie verfolgte andere kreative Ziele. Unter anderem verfasste sie eine Autobiografie mit dem Titel "Love Can Build a Bridge" (zusammen mit Bud Schaetzle) und hielt Vorträge über Motivation. Im Laufe der Zeit gesellte sich zu der Unterstützung, welche die Fans beiden Frauen entgegenbrachten, allerdings der Wunsch nach einer Wiedervereinigung. Einige kurze Berührungspunkte führten Mutter und Tochter in der Öffentlichkeit zusammen, insbesondere bei einem Auftritt 1991, der unter dem Titel "Their Final Concert" lief und zur bis dahin erfolgreichsten Show im Bezahlfernsehen wurde; bei ihrer ersten "Power to Change"-Show am Silvesterabend des Jahres 1999 in Phoenix, Arizona; und ihrer von Kmart gesponserten "Power to Change"-Tour im Jahr 2000.
Dieses Mal sind bei der Tournee "The Judds: The Last Encore" zwei Frauen zu sehen, deren Geschichte zu einer neuen Ebene des Verständnisses geführt hat, das auf ihrem Engagement beruht, ihre medienwirksame Tour dazu einzusetzen, um bedürftigen Menschen zu helfen. 15 Prozent ihrer Fan- und VIP-Pakete sowie die Gesamteinnahmen aus dem Verkauf eines speziellen Fanartikels werden an das St. Jude Children's Research Hospital gespendet.
Zusätzlich liegt der Tour die Absicht zugrunde, dem Mutter-Tochter-Verhältnis die Spannung zu nehmen, welche die beiden während ihrer ganzen Karriere begleitet hat. Im Gespräch werfen sie sich immer noch witzige und boshafte Bemerkungen zu, aber diese sind heute weniger konkurrenzbetont und eher als gemeinsamer Witz gemeint. "Wir weinen viel", räumt Wynonna ein. "Wir versuchen herauszufinden, was wir eigentlich sagen und was wir tun möchten. Ich weiß, was wir nicht möchten. Ich möchte nicht an diesem Ort der Vergangenheit stranden, an den die Leute gehen, 'Mensch, da ist doch kein Leben.'"
Diese wichtige Unterscheidung hoffen The Judds auf ihrer Tour zu machen. Ihre neue Richtung deuteten sie bei einem Auftritt auf der Riverfront Park Daytime Stage ihm Rahmen des 2010 CMA Music Festival an. Die Darbietung umfasste ein langsam glühendes Blues-Feeling bei "Give a Little Love", ein Hauch New Orleans bei "Rockin' with the Rhythm of the Rain" und ein Georgia Satellites-Riff, das in Wynonnas "No One Else on Earth" integriert wurde. Sie liefen nicht vor ihrer Vergangenheit davon, aber sie versuchten auch nicht, sie wieder aufleben zu lassen. Stattdessen strebten sie nach nuancierten Veränderungen, als sie nach neuen Ansichten sehr vertrauter Musik suchten.
"Für mich hat das mit dem Beat zu tun", erklärt Wynonna. "Ich suche Sounds. Ich suche Tempi. Ich möchte nicht, dass alles akustisch ist, sondern denke stattdessen: lasst uns hier einen kräftigen Gitarrenakkord reinbringen. Ich sehe mir das Publikum an und sehe dieses zwölfjährige Mädchen, das total auf Miley Cyrus und die Musiker von heute und den eher poppigen, glatten Sound steht. Ich suche nach einer Art, wie man authentisch und der Vergangenheit verpflichtet bleiben kann, indem man diese ehrt. Aber wie verrücken wir trotzdem unsere Möbel und bringen unseren Look auf den neuesten Stand – du weißt schon, keine Schulterpolster à la 'Der Denver-Clan' und so was?" Naomi greift die Bemerkung über die Schulterpolster auf und witzelt: "Darauf könntest du deinen Drink abstellen."
Die Beziehung zwischen den Judds ist, wie sie zugeben, ein bisschen so wie eine Ping-Pong-Partie für Fans. Die beiden wetteifern um Aufmerksamkeit, werfen ihre kleinen Nebenbemerkungen ein und pendeln zwischen Witzen und intensiver Selbstbetrachtung hin und her. Aber obwohl Naomi und Wynonna jahrelang an ihrem gegenseitigen Verständnis gearbeitet haben, schwebte im Hintergrund immer ein spirituelles Element. Das Demo, aufgrund dessen sie 1983 bei RCA Records unter Vertrag kamen, beinhaltete einen von Naomi geschriebenen Gospel-Song mit dem Titel "When King Jesus Calls His Children Home", und es vergeht kaum ein Auftritt, ohne dass sie die Zeit findet, das Publikum zur Hoffnung zu führen. Als ehemalige Krankenschwester plant Naomi, ihre Hoffnung in Form von Aktionen zu mobilisieren. Hierzu möchte sie die Verbindung zwischen Seele, Körper und Geist mittels einer neurologischen Klinik untersuchen, die sie nach der Tour in Franklin, Tennessee gründen möchte und zu der auch ein neurowissenschaftliches Forschungszentrum und ein Medienlabor gehören sollten.
"Ihre Spiritualität hat sie zusammengehalten bei allen Unstimmigkeiten zwischen Mutter und Tochter, Uneinigkeiten mit dem Management, Wechsel der Plattenfirma, unglaublichen Problemen mit Familienmitgliedern", bemerkt Curb. "Ihre Spiritualität war immer ihre Basis, und die ist nie ins Wanken geraten."
Sie haben jedoch gelernt, dass sie ihre Ansichten über die Welt einander nicht aufdrängen müssen. Beide vermögen es heute besser als früher, sich zurückzuhalten, ihre Unterschiede anzuerkennen und mit ihnen zu leben. Auf ihrer Tour 2010 werden sie zusammen auf der Bühne stehen und aufgeschlossen gegenüber den improvisierten Momenten sein, in denen zwischen den Zeilen gehört wird - Momente, zu denen es fast immer im Laufe ihrer Shows kommt. Aber sie werden in getrennten Bussen reisen - Naomi mit ihrem Ehemann und Manager Larry Strickland, der als Mitglied von The Palmetto State Quartet ihr Backgroundsänger ist, und Wynonna vielleicht mit ihren Kindern Elijah und Grace. "Diese Tour wird für uns persönlich ein großes Ding", bestätigt Naomi. "Diese Tour wird wirklich ein Test für das alles."
Allerdings ist es ein Test, für den es wahrscheinlich eine einfache Lösung gibt. "Das Wort", fasst Naomi zusammen, "heißt Grenzen – eines der wichtigsten Worte, die wir gelernt haben."