Amos Lee: auf den Song-Spuren von Lucinda Williams
Im Gegensatz zum nicht selten ruppigen Vortrag von Lucinda Williams ist Amos Lee ein Experte für ruhige Gangarten. Ein sanfter Poet, der mit weicher, dennoch ausdrucksstarker Stimme vom Leben erzählt. Auch ein Mutmacher, über den beispielsweise ein amerikanischer Kritiker schrieb, dass er Musik mache, "die den Zuhörern hilft, zu heilen." Ein schönes Kompliment. Doch nach seinem letzten Album "Dreamland" (aus dem Jahr 2022) erlitt Amos Lee selbst seelische Verletzungen. Die Stichworte: Verlust und Trennung. Trost fand er, so heißt es, als er Lucinda Williams besuchte. Sie sei für ihn eine "spirituelle Führerin" und dazu eine "unverblümt aufrichtige Songwriting-Heldin".
Auch die Songs seiner Heldin konnten seinen Schmerz lindern. Da war es schon fast naheliegend, dass er sich ihrem Backkatalog annahm - auch als eine Art "Dankeschön". Auf "Honeysuckle Switches" gewinnt Ryan Anthony Massaro, wie Lee bürgerlich heißt, mit seiner honigweichen Blues- und Soulstimme den zwölf Williams-Originalen völlig neue Facetten ab. Er covert diese Songs nicht. Er zerlegt und interpretiert sie neu und macht sie damit zu seinen eigenen Songs. Seine Mentorin dürfte stolz über die kreative Leistung ihres Schützlings sein.
Vielleicht verleiht ihm "Honeysuckle Switches" auch einen neuerlichen Karriere-Schub. Dass er den gut gebrauchen kann, steht außer Frage. Schließlich weist der Graph seines künstlerischen Werdegangs eine klassische Sinus-Kurve auf: verhaltener Beginn, dezenter, dann steiler Aufstieg - und genauso wieder zurück in die Niederungen der kommerziellen Flops. Auf dem Zenit seiner Karriere landete Amos Lee einen echten Volltreffer: Mit "Mission Bell" aus dem Jahr 2011 eroberte er sowohl die amerikanischen Hot 200- als auch Rock-Charts. Jeweils Platz eins! Wow. Sogar in Deutschland schnupperte er mit Rang 39 in die nationale Bestenliste. Nach dieser Großtat ging es aber leider wieder schnurstracks abwärts. Während er mit dem 2022er-Werk "Dreamland" immerhin noch in die amerikanischen Rock-Top 40 kam, scheiterte er mit "My Ideal: A Tribute to Chet Baker Sings" (Ende 2022 erschienen) grandios.
Chet Baker ist eine Jazz-Legende und Jazz ist dem 46-jährigen musikalischen Chamäleon natürlich nicht fremd. Nicht umsonst wurde er immer wieder als "männliche Norah Jones" gehandelt. Weit eher als im Jazz dürfte der Sänger und Songschreiber allerdings im Soul, Blues und Folk beheimatet sein. Aber auch von Country versteht der Mann etwas. Diese Roots-Genres prägen - natürlich - auch seine Versionen "Honeysuckle Switches"-Songs. Da sich das Songwriting von Lucinda Williams ganz an den Traditionen des Folk und Country orientiert, kann bei den Neuinterpretationen von Lee eigentlich nur Gutes dabei herauskommen.
"Honeysuckle Switches": Amos Lee macht die Williams-Songs zu seinen eigenen
Mit dieser Vermutung liegt man alles andere als falsch. "Honeysuckle Switches" erweist sich als ein in Watte gepacktes Song-Potpourri, als herrlich romantisch angelegte Selbstbetrachtungen und Kommentare zu Gott und die Welt. Lucinda Williams ist eine begnadete Songautorin und ihre bildmächtige Poesie gewinnt in der Bearbeitung von Amos Lee zusätzlich: an emotionaler Wucht, an zugänglichen Harmonien und durch den herzerweichenden Gesang des Interpreten.
Dass Lee ein grandioser Folky ist, macht er gleich im Opener "Are You Alright" deutlich. In dem Track lebt er seine romantische Ader genüsslich aus. Nicht weniger überzeugend gibt er aber auch den Blueser: In "Fruits of my Labor" vermengt er das Zwölftakt-Schema mit den Harmonien des Folk, in der moralischen Richtschnur "Get Right With God" verknüpft er Blues mit Kopfstimme (und erinnert dabei sogar an die frühen Canned Heat) und das großartige "Born to Be Loved" legt er als Retro-Blues-Ballade mit Orgel, Fender Rhodes und Laidback-Groove gewinnbringend an.
Bei der Songauswahl konzentrierte sich Amos Lee auf Songs, die zwischen ihrem 1992er Durchbruch-Album "Sweet Old World" und "Blessed" aus dem Jahr 2011 stammen. Für das Glanzlicht der CD sorgt die Neuinterpretation eines echten Klassikers: "Greenville" von Williams Meisterwerk "Car Wheels on a Gravel Road" (im Original ein Duett von Williams und Emmylou Harris). Aber auch seine Version überzeugt durch tollen Gesang, unverfälschtem Folk-Feeling und pathosfreiem Gospel-Chor. Hier hört und spürt man schon fast Amos Lees´ Heilungsprozess.
Fazit: Amos Lee findet Trost in den Songs von Lucinda Williams. Mehr noch: Mit "Honeysuckle Switches: The Songs of Lucinda Williams" kann er womöglich an frühere Glanztaten anknüpfen.