Country, so hört man es immer wieder, ist Nischenmusik. Ein Sound, der außerhalb Amerikas nur eine kleine Gruppe anspricht. Wer in diesem Jahr bei der vierten Ausgabe des Country 2 Country-Festivals in London dabei war, muss diese These bezweifeln. Nischenmusik? Wenn die größte Arena der britischen Metropole, die 20.000 Zuschauer fassende O2-Arena, drei Mal nahezu rappelvoll ist? Und das mit einem Programm, das so ziemlich alle Facetten des zeitgenössischen Country-Sounds präsentiert? Wenn das also eine Nische ist . dann aber eine verdammt große...
Country 2 Country: Masse und Klasse
Was sich auf der Main-Stage der gewaltigen O2-Arena abspielte, war schon mal höchst imposant. Folgende Nashville-Großkaliber setzten auf der großen Arena-Bühne die Highlights: Thomas Rhett, Dwight Yoakam,Miranda Lambert (11.3.),Sam Hunt, Little Big Town, Carrie Underwood (12.3.), Andrew Combs, Chris Stapleton, Kacey Musgraves und Eric Church (13.3.). Noch fast erstaunlicher als das Stell-dich-ein der Superstars war das Rahmenprogramm; die weiteren Bühnen und Spielstätten, die Showcases, After-Show-Partys und Songwriter-Sessions. Ein ganzes Dutzend davon hielten die Veranstalter parat, darunter die top besetzte "Yamaha Music Stage", "The Saloon", die ab Mittag bis rund 16:00 Uhr bespielte "Under The Apple Tree Sessions", "The Bluebird Café at C2C" und - als krönender Abschluss eines jeden Country 2 Country -Tages: Die "Official Aftershow Party". Welche Qualität selbst diese kleineren Venues boten, zeigte sich beispielsweise bei den Party-Bands: Frankie Ballard, Old Dominion und A Thousand Horses spielten hier auf. Keine Frage, hier war Klotzen und keinesfalls Kleckern die Devise. Auch weil man neben Klasse auch Masse bot. Ganz gehörig sogar. So konnte der konditionsstarke Country-Freund an den drei Tagen weit mehr als 100 Country-Bands live erleben. Nashville muss an diesem Country 2 Country-Wochenende ziemlich leer gefegt gewesen sein...
Eric Church sagte es im Interview mit CountryMusicNews: Er und seine Kolleginnen und Kollegen aus Nashville seien, wenn sie auf Europa-Tour sind, stets auf einer Mission. Sie sind: Missionare mit Mikrofon und Gitarren. Anstatt einer religiösen Überzeugung vermitteln die singenden Kreuzritter die reine Lehre der Country Music anno 2016. Nach diesen drei Tagen Country-Vollbedienung kann die Botschaft nur lauten: Country ist modern. Weltoffen. Facettenreich. Anstatt eines bestimmten Klangbildes ist heute die Abwechslung typisch für das Genre. Pedal Steel Guitar trifft auf Metal-Riffs und HipHop; Singer-Songwriter-Folkies, Bluegrass-Traditionalisten und langmähnige Neo-Hippies sind genauso Teil der Szene, wie gestylte Country-Prinzessinnen, blitzsaubere Pop-Ensembles und experimentierfreudige Soundtüftler. Grenzen: gibt es keine. Erlaubt ist: so ziemlich alles.
Viele Stilrichtungen - mit Gemeinsamkeiten
Diese Botschaft ist allerdings noch längst nicht in den europäischen Zirkeln der Country-Gemeinde angekommen. Das hat auch Eric Church nach zwei Konzertreisen durch Deutschland erkannt: "Hier verkleiden sich die Leute immer noch, sie halten ein Bild der Country Music hoch, das es in Nashville so längst nicht mehr gibt." Auch das ist ein Teil der Mission - das Image der Country Music auf den aktuellen Stand zu bringen. Das sehen auch die überaus adretten Vier von Little Big Town so, die wir zwei Stunden vor ihrer phänomenalen Show im Backstage-Bereich zum Interview getroffen haben. "Alles ändert sich, Nashville ist nicht mehr die gleiche Stadt wie zu unseren Anfangstagen", sagt Phillip Sweet. Und Sängerin Karen Fairchild ergänzt: "Dennoch verbindet alle hier auftretenden Künstler etwas: der Spirit der Country Music, das Storytelling, das Gefühl für die Musik und die Menschen."
Wie weit die Grenzen von heutiger Country Music gesteckt sind, ließ sich im Verlauf der drei Tage allemal gut bestaunen. Vom fröhlichen HipHop-inspirierten Pop eines Sam Hunt bis zum immer noch obercoolen Dwight Yoakam ist es ein weiter Weg. Für Michael Hobby, Leadsänger der jungen, großartigen Southern-Country-Rock-Formation A Thousand Horses spielt das aber keine große Rolle. "Hey", sagt der notorische Hutträger beim kurzen Gespräch am Sonntagnachmittag, "was sollen diese ganzen Genres? Es geht doch letztlich nur um eines: um gute Musik."
Country 2 Country: Mehr als ein Festival
Und der konnte man im weitläufigen Oval der O2-Arena nirgendwo an diesen drei Festivaltagen entgehen. Die O2 ist übrigens weit mehr als nur eine Spielstätte. Die gewaltige Location ist auch eine Art Freizeitpark mit Shops, Restaurants und Clubs. Jugendliche und ganze Familien flanieren am Wochenende durch die Gänge, schauen, essen, trinken, kaufen - und hören. Vor allem letzteres. Kaum hatte man einen Fuß in die O2 gesetzt, schlugen einem schon Country-Klänge entgegen. Die "Big Entrance"-Stage bot am Samstag und Sonntag bereits ab 10:30 Uhr - kostenlos - Live-Musik. Im Dreiviertelstundentakt präsentierten sich bis kurz vor 18:00 Uhr Newcomer, Geheimtipps, aber auch gestandene Acts. Darunter: Darline, Ashton Lane, Outlander und Sonia Leigh. Wie der stets große Andrang vor der Bühne bewies, war dieser vorgeschobene Missionars-Posten schon mal ein Erfolg.
Wer sich dann auf den Weg zu seinem Platz in der Arena machte, musste sich vorkommen wie am Broadway Nashvilles: Überall Musik. Aus jedem Club, aus jedem Restaurant dröhnten Gitarren und Banjos aus den Lautsprechern - und die Live-Acts spielten dagegen an. Wie zum Beispiel auf der ebenfalls kostenlosen "Town Square"-Bühne. Diese relativ große Stage war in dem unvermeidlichen Country & Western-Basar angesiedelt und hielt mit Acts wie Frankie Davies, Top-Songwriter Shane McAnally oder Brooke Eden zugkräftige Namen parat.
Überhaupt: Country 2 Country ist mehr als ein Festival. Es ist gleichzeitig auch die Leistungsschau eines Genres, eine Art Country-Fachmesse. Nirgendwo sonst, vielleicht nicht mal in Nashville, wird das Produkt "Country Music" so umfangreich erklärt, vermittelt und zur Schau gestellt, wie bei dieser Veranstaltung. Alles Bemühen wäre freilich vergeblich, wüssten die Acts nicht zu überzeugen. Aber das haben sie: Von Thomas Rhett über Dwight Yoakam und Miranda Lambert über Maddie & Tae, Sam Hunt, Little Big Town und Carrie Underwood bis hin zu den rustikaleren Vertretern am Sonntag, mit Andrew Combs, Chris Stapleton, Kacey Musgraves und Eric Church.
Die Yamaha Music Stage
Konservative Träumer mögen vielleicht ihre Probleme damit haben, dass ein Weltkonzern eine Musikbühne präsentiert. Doch das Musikbusiness ist eben ein Geschäft, ein lukratives mitunter. Dass eine Firma wie Yamaha - weltweit einer der größten Hersteller von Musikinstrumenten - das Unternehmen Country 2 Country unterstützt, ist für alle Country-Freunde eine gute Nachricht. Sie besagt, dass das Genre Potential hat; haben muss, sonst wäre Yamaha sicher nicht mit an Bord. Im letzten Jahr hieß die kleine Bühne am anderen Ende der Arena noch "Satellite Stage", in diesem Jahr stand erstmals der japanische Konzern Pate für Charles Esten, Ashley Monroe (11.3.), High Valley, Maren Morris (12.3.), Striking Matches und Frankie Ballard (13.3.).
Brooklyn Bowl
Das Brooklyn Bowl ist gleichzeitig Restaurant und Club. In der etwa 350 Zuschauer fassenden Spielstätte (Ticket war erforderlich) gastierten ab Mittag viele Stars. Hit-Acts wie Pauper Kings, Lucy May, Carolynne Poole, Phil Vassar und David Nail. Mit letzterem konnten wir unmittelbar nach seiner umjubelten Show sprechen: "Es war purer Wahnsinn", sagt der noch verschwitzte Sänger und Songwriter im Backstage-Bereich seiner Plattenfirma, "ich war bei den insgesamt drei Auftritten hier fast genauso nervös, wie bei meinen Shows in der Grand Ole Opry." Schließlich habe er sich mit den Auftritten erstmals in Europa vorgestellt. Ein neues Publikum. Eine neue Umgebung. Vielleicht sogar: eine neue, andere Kultur. "Ich wusste nicht, was mich erwartet", sagt er, nippt an einer Dose Red Bull, schluckt, blickt an die Decke seiner hell beleuchteten Garderobe und fügt hinzu: "Aber es war einfach großartig." Umgehauen haben den Sänger, der mit "The Sound of a Million Dreams" seinen Durchbruch feierte, drei Dinge: "Erstens: Der Club war um 14.30 Uhr rappelvoll, und das an einem sonnigen Sonntag. Zweitens: Viele Zuschauer kannten die Texte, sie haben mitgesungen, das habe ich nicht erwartet." Beim dritten Punkt muss er nochmals schlucken, aber nicht wegen der koffeinhaltigen Brause. "Ein Zuschauer in der ersten Reihe rief mir zu, ich solle "Memphis" spielen. Ich habe den Song 2002 aufgenommen und er war nicht gerade sehr erfolgreich. Dass sich hier Leute diesen frühen Titel wünschen, hat mich richtig gerührt."
Die Highlights beim Country 2 Country festival 2016
Thomas Rhett: Hitparadenstürmer mit Entertainer-Qualitäten. Er ist bereit für den nächsten Schritt zum Superstar.
Dwight Yoakam: Begeisterte mit knochentrockenem Neo-Traditional-Sound. Viel zu selten hier auf Tour.
Miranda Lambert: Spielte vor ihrer Show "Rock 'n' Roll" von Led Zeppelin - der Titel war Programm: ihr Show war laut und kraftvoll.
Maddie & Tae: Süß, professionell, rockiger als auf CD - und für ihre jungen Jahre erstaunlich routiniert.
Sam Hunt: Unkonventionelle Besetzung: Neben Sänger Hunt mit zwei Gitarristen und Schlagzeuger auf der Bühne. Programm nicht minder unkonventionell für ein Country-Festival. Hat dennoch abgeräumt.
Little Big Town: So sympathisch wie talentiert - setzten mit ihrer großartigen Show ein Qualitäts-Highlight. Umwerfend: ihre Version des Fleetwood Mac-Hits "The Chain".
Carrie Underwood: Stimmte ihre Fans mit AC/DC-Klängen ein - nicht zufällig, die sexy Schönheit rockte, was das Zeug hielt. Belegte Platz zwei im "Lange-Beine-Contest".
Andrew Combs: Starker, solider Auftritt für den Newcomer. Mann mit Potential.
Chris Stapleton: In Mini-Besetzung haben sie sich ganz eng auf der Bühne zusammen gekuschelt - und begeisterten mit ihren genauso raubeinigen wie gefühlvollen Songs. Chris Stapleton und seine singende Frau Morgane werden immer mehr zu Johnny und June.
Kacey Musgraves: London liebt Musgraves, die sich als "dummes Mädchen aus Ost-Texas" vorstellte. Ihren traditionellen Sound konterkarierte sie mit Ironie. Gewann mit dem kürzesten Mini den "Lange-Beine-Contest".
Eric Church: Er hat seine ganz eigene Vorstellung von Country – und mutet seinen Fans Tempowechsel, komplexe Arrangements und anspruchsvolle Texte zu. Wie es scheint: völlig zu Recht. Die Menge feierte ihn wie kaum einen anderen.