Willie Nelson - Countryman

Nach fast einer ganzen Dekade ist Willie Nelsons lange verloren geglaubtes, erstes Reggae-Werk nun endlich fertig geworden. Die Idee wurde schon 1995 geboren, als der bekannte Produzent Don Was den Vorschlag für ein solches Unterfangen machte. Nelson und sein Manager Mark Rothbaum flogen nach Jamaika, um sich mit dem Island-Records-Gründer und -Präsidenten Chris Blackwell zu treffen. Don schlug sowohl Blackwell als auch Nelson vor, ein von Reggae durchtränktes Country-Album aufzunehmen, und beide waren sofort hin und weg. Blackwell war der perfekte Mann für den Job. Denn er ist nicht nur derjenige, der Rock-Fans mit der Welt des Reggae konfrontiert hatte, nein, er hatte ihnen auch Bob Marley nähergebracht. Als vielseitiger und mit massig Kontakten ausgestatteter Vollblutmusikfan konnte er die Ehe von Country und Reggae vollbringen, wie es wohl nur wenige andere geschafft hätten.

Schließlich ähneln sich die beiden Genres in vielerlei Hinsicht - sie sind stilistisch nicht so unterschiedlich wie mancher denken mag. Toots Hibbert hatte das schon mit seiner unfassbaren Version von "Country Roads" bewiesen, und die bekannte Reggae-Truppe The Melodians waren die ersten, die den Gospel/Bluegrass-Klassiker "Rivers of Babylon" - der zuvor auch schon von Willie interpretiert worden war - in einen absoluten Reggae-Klassiker verwandelten. So ist es vielleicht gar kein Zufall, dass manche von Reggae auch als dem "Country Jamaikas" sprechen, schließlich handeln beide Musikstile in der Regel von alltäglichen Geschehnissen, beide bauen auf der Spiritual- und Gospel-Tradition auf.

"Ich fand die Idee, ein auf Country basierendes Reggae-Album zu machen, einfach fantastisch", erzählt Blackwell. "Ich war schon immer daran interessiert, verschiedene Stile zusammen zu bringen - als dann Willie dazu kam, der ja nicht nur ein grandioser Songwriter ist, sondern auch immer auf der Suche nach neuen Dingen ist, da war mir klar, dass es nur so klappen konnte."

So seltsam das auch klingen mag: schon beim ersten Treffen auf der Insel zeichneten sich die ersten Verzögerungen ab. Gleich im ersten Gespräch erwähnte Willie, dass er gerade mit den Aufnahmen zu einem anderen Album beschäftigt sei. Nelson war seinerzeit gerade dabei, ein selbstproduziertes Projekt aufzunehmen - diese Aufnahmen führten später zu dem allerorts abgefeierten Spirit-Album. Als Blackwell schließlich die ersten Stücke davon zu hören bekam, verliebte er sich sofort und sorgte dafür, dass Willie von nun an als Künstler bei Island Records unter Vertrag stand. Sicherlich bedeutete dieser Deal indirekt auch, dass Don und Willie grünes Licht für ihr Reggae-Projekt hatten, doch zunächst sollte Spirit fertiggestellt werden.

Spirit wurde im Juni 1996 veröffentlicht. Die zurückhaltende Schönheit, gepaart mit dem starken Konzept dahinter, machten die Platte zu Willies fokussiertester und persönlichster Veröffentlichung in den Neunzigern. Zudem war sie die Grundlage der guten Beziehungen (sowohl persönlich als auch geschäftlich) zwischen Nelson und Island Records. Willies Nachfolge-Alben, besonders das von Daniel Lanois produzierte Teatro, verstärkten diese Beziehung zwischen dem Künstler und seinem Label nur noch. Doch mit all den Solo-Projekten an der Spitze der To-Do-Liste, rutschte das geplante Reggae-Album immer weiter in den Hintergrund, wirkte bereits nahezu vergessen. Noch näher an den Rande der Vergessenheit rutschte die Idee, als Seagram´s, die einst die Eigentümer von Universal Records waren, sich Polygram zueigen machten, woraufhin Blackwell Island Records im Jahr 1998 den Rücken kehrte.

Ohne den begeisterten Fürsprecher Blackwell, der hinter dem Reggae-Album stand, nahmen Was und Willie nur ein paar Sessions auf, legten das Projekt dann zunächst auf Eis. Natürlich hatte Willie das Projekt von nun an immer im Hinterkopf, er hatte sich vorgenommen, die Arbeiten so bald wie möglich fortzusetzen. Doch im Firmen-Wirrwarr, in dem sich Island mit Def Jam vereinte, veränderte sich die Situation wiederum: Zwar mag der Schulterschluss der beiden Firmen ein Erfolg gewesen sein - Willie war sich dennoch sicher, dass er ein neues Label-Zuhause brauchte. So landete er im Jahr 2001 auf Lost Highway, einem Label, dass als Sammelstelle für Vergessene und übersehene fungierte. Genau hier schließt sich der Kreis, und die vergessene Reggae-Platte kehrt zurück auf den Plan.

Im Jahr 2004 stellte der Lost Highway-Gründer Luke Lewis die einstige Island/Palm Entertainment (Blackwells neues Unternehmen) A&R Kim Buie ein und machte sie zu seiner neuen Vizepräsidentin des A&R-Departments. An Buies enge Verbindungen zu Blackwell anknüpfend, kommt Lewis schließlich die Idee, die inzwischen als "verloren" deklarierten Reggae-Sessions zu veröffentlichen. Könnte das ein geeignetes Einstiegsprojekt für Buie sein?

"Willie und ich hatten das Projekt schon so oft diskutiert, und ich wusste, wie viel es ihm bedeutet. Die Musik ist so cool, daher hatte ich die Platte stets im Hinterkopf. Als Kim dann dazukam, schien endlich genau der Zeitpunkt gekommen zu sein, um wirklich einmal Nägel mit Köpfen zu machen", erzählt Lewis heute.

Lewis hatte lange Zeit über die Reggae-Idee nachgedacht, so dass er sich schließlich dazu entschloss, bei der Fertigstellung des Albums mitzuhelfen. Ein Teil der Arbeit war schließlich schon erledigt worden, nun musste man das Ganze nur noch bis zum Ende durchdenken.

Da der ursprüngliche Partner von Nelson, Don Was, zu jener Zeit gerade mit den Rolling Stones im Studio war, entschlossen sich Buie und Rothbaum, den Produzenten Richard Feldman zu engagieren. Feldman hatte zuvor mit Toots Hibbert, Fleetwood Mac, No Doubt und Johnny Mathis gearbeitet. Feldman war ebenso perfekt für den Job. Im Jahr 2004 hatte er das mit einem Grammy ausgezeichnete True Love-Album von Toots & the Maytals produziert, und Willie hatte bereits auf diesem Album ausgeholfen. Feldman war genau die Art von Reggae-Legende, die einem bei einem solchen Unterfangen unter die Arme greifen muss. Schon bald war es soweit, dass aus Feldmans einzigartiger Produktion und einem Hauch Magie nun endlich ein fertiges Album entstand, so dass dieses 10-Jahres-Projekt endlich zu einem glücklichen Abschluss kam.

Countryman ist Willies Verneigung vor dem Off-Beat-Sound aus Jamaika, es ist eine wundersame Reise in das Land des Dubs bzw. der Dreadlocks. Willie nimmt ein paar seiner eigenen Stücke und jagt sie durch den Reggae-Filter, würzt sie mit Akustikgitarren, Steel-Gitarre, der Mundharmonika und seinem patentieren Country-Sound, wobei er nun auch die Schlagzeug- und Bassparts ganz nach vorne treten lässt. Sein oft imitierter Klassiker "One in a Row" wird mit einer Reggae-Melodie infiziert, und auch sein einstiges Duett mit Brenda Lee - "You Left Me a Long Time Ago" - verpflanzt er hier in ganz neue Sound-Gewänder. Ein weiteres Highlight ist "Darkness on the Face of the Earth", ein Juwel aus dem Sechzigern, der ebenfalls gänzlich auf Reggae umgepolt wird. Die Tatsache, dass man viele seiner Songs so gut in Richtung Reggae ableiten kann, beweist letztlich, was für ein vielfältiger Songwriter der gute Mr. Nelson eigentlich ist.

Außerdem versucht sich Willie an einer Handvoll Reggae-Klassikern aus dem berüchtigten, jamaikanischen Film-Soundtrack zu "The Harder They Come", der ursprünglich auf Island Records veröffentlicht wurde. Lieba Thomas, die Tochter von Toots Hibbert, und die aus Jamaika stammende Sängerin Pam Hall stehen Willie zur Seite, als er den Jimmy Cliff-Klassiker "The Harder They Come" neu interpretiert. Und noch ein weiterer Cliff-Song wird von Willie bearbeitet: "Sitting Here in Limbo". Schließlich stößt auch die Reggae-Legende Toots Hibbert dazu und singt auf Willies Version von Johnny Cashs "I´m A Worried Man". In diesem Song verfließen die Grenzen zwischen Reggae und Country gänzlich, eine Rückkehr zu Soul- und Hillbilly-Musik wird zelebriert. So übertrifft das endlich fertiggestellte Album insgesamt all die Erwartungen und Träume, die vor zehn Jahren ausgesprochen wurden.

Nun, zehn Jahre hat es also gedauert, doch dieser Tage wird Willies Vision von Jamaika endlich das Licht der Welt erblicken. Der klangliche Hybrid, den Willie mit dem Countryman erschaffen hat, klingt so, als ob er sich in der lauen Brise Jamaikas absolut zu Hause fühlt.

vgw
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