Nach 14 Jahren CD-Pause kommt "Gaslighter"
Unglaubliche 14 Jahre haben sich Natalie Maines, Emily Burns Strayer und Martie Maguire Zeit für das neue Werk gelassen. 14 Jahre. Das ist im schnelllebigen Musikbusiness keine Ewigkeit mehr, das ist eine ganze Epoche. Über die Gründe, warum die CD-Pause von The Chicks so lange dauern musste, kann man nur grübeln: Solo-Interessen, private Verpflichtungen, andere Pläne. Oder vielleicht hat die zwölffachen Grammy-Gewinner einfach eine, in der Branche nicht unbekannte Müdigkeit oder Lethargie erfasst. Wer weiß das schon. Fest steht aber, dass es, um neue, starke Songs schreiben zu können, großer Inspiration und Hingabe bedarf - und die lässt sich einfach nicht per Knopfdruck herstellen.
Nun aber war sie anscheinend da, die Inspiration. Und auch die Kreativität und der Wille, wieder mal nicht nur eine CD unters Country-Pop-Volk zu werfen, sondern, die Damen sind sich etwas schuldig, ein Statement. Politische Ansagen inklusive. Natürlich. Mehrfach wurde die Veröffentlichung ihres achten Albums verschoben. Erst kam Corona. Dann die Black-Lives-Matter-Proteste und damit auch der neue Name. Schon fast ein Wunder, dass das Dutzend neuer Songs jetzt das Licht der Welt erblickt. Dabei braucht die Welt gerade dringend gute Nachrichten - und "Gaslighter" ist eine gute Nachricht.
Im Juni vor zwei Jahren hat das Country- und Bluegrass-Dreigestirn mit den Arbeiten zu "Gaslighter" bereits begonnen. Zunächst wollte die Band eine CD mit Cover-Songs aufnehmen, angeblich, um in erster Linie die Vertragsverpflichtungen mit Sony zu erfüllen. Mehr nicht. Doch dann kam die Scheidung von Natalie Maines - und plötzlich hatte die Ober-Chick ein deutlich größeres Bedürfnis, sich mitzuteilen.
Das macht sie gleich mal im Opener und Titeltrack. In dem unbeschwert klingenden Song zieht Maines, so gar nicht der fröhlichen Melodie entsprechend, kräftig vom Leder. Sie hat im Vorfeld der CD angekündigt, dass sie auf dem Album ihre gescheiterte Ehe verarbeiten werde - gesagt, getan. Sie nimmt in der Abrechnung kein Blatt vor dem Mund, es geht um Lügen, um Täuschungen, um unerfüllte Wünsche. Das volle Programm also. Doch der Song reicht über den Privathaushalt hinaus. Das macht schon das aufwändig produzierte Video zu dem Song deutlich: Natalie Maines ist hier in Uniform sitzend zu sehen, ihre Chick-Schwestern Emily Strayer und Martie Maguire legen ihr schützend die Hände auf die Schultern. Motto: Wir stehen zu Dir. Gemeinsam singen sie mit deutlichen Worten gegen die politischen Zündler dieser Welt an. Kurzum: ein starker Auftakt. Und auch ein typischer für die unbequeme Damenriege aus Texas.
Auch mit neuem Namen sind "The Chicks" das Maß der Dinge
Doch The Chicks ecken nicht nur an. Das Trio verfügt auch über eine nahezu einzigartige Songwriting- und Performance-Qualität. Wie kein anderer Act, weder in Nashville noch sonst wo, bringen sie subtile Banjo-Klänge und stadiontaugliche Rock-Power auf einen Nenner. Beispiele dafür liefern sie in "My Best Friend's Wedding" (erneut eine Verarbeitung des Ehe-Traumas) und das wunderbare, mit Geigen, Fender-Rhodes und hymnischen Harmonien üppig ausgestattete "For Her".
Wer will, kann die zwölf Songs in drei musikalische Kategorien unterteilen: Die ersten Tracks sind im angesagten Country-Pop angesiedelt, in der Mitte wird es mit dem wütenden, politisch agitierenden, schon fast an einem Techno-Track erinnernden "March March" und dem aufwändig arrangierten "Tights on my Boat" sperrig, experimentell und etwas skurril. Und zum Finale hin, so scheint es, finden Maine und ihre Mitstreiterinnen zum inneren Frieden, zur Ruhe, zur Harmonie.
Natürlich decken die Chicks nicht deshalb ein so großes musikalisches Terrain ab, weil sie es jedem recht machen möchten. Keinesfalls. Man kann die Band für so manches bezichtigen, sicher aber nicht für Gefallsucht. Deshalb glänzen Songs, wie die leisen, akustisch eingespielten Titeln "Young Man", "Hope It's Something Good" oder das finale "Set Me Free" nicht nur durch perfekte Harmony-Vocals und wundervolle Harmoniebögen, sondern auch durch Nachdenklichkeit und Tiefgang. Dass The Chicks das Album so friedfertig ausklingen lassen, dürfte auch ein letzter Fingerzeig sein: Es geht immer weiter im Leben! Nie die Hoffnung aufgeben!
Fazit: Man durfte seine Zweifel haben, ob The Chicks die 14-jährige Plattenpause schadlos überstehen. Nach "Gaslighter" steht fest: Sie sind im geistreichen Country-Pop und Banjo-Stadion-Rock immer noch das Maß der Dinge. Ein Meisterwerk!