Mit so einem Einstiegssong liegt die Messlatte für die weiteren Tracks natürlich schon mal enorm hoch. Einschüchtern ließ sich die 33-Jährige aus Los Angeles davon aber nicht. Im Gegenteil. Sie schlägt in den nachfolgenden Titel zwar andere Töne an. Gefälligere, eher den Geschmack des Mainstreams und der Radioredakteure entsprechende, aber: alles auf hohem Niveau. Nehmen wir nur mal Song Nummer zwei, "Before You Met Me", ein im Midtempo angesiedelter, mit sattem Groove, zwingender Refrain-Melodie und starker Slide-Gitarre versehener Countryrock-Track, der sofort gute Laune verbreitet.
Stilistisch vielfältig, dennoch aus einem Guss: "Come Get Your Wife"
Mit dem nächsten Track kommt der nächste musikalische Schwenk: Bei "Try Jesus", das verraten Titel und Orgel-Intro, präsentiert sie einen Gospel, einen Country-Gospel, genauer gesagt. Es dauert ein paar Takte, da dröhnt im Background ein fulminanter Chor und Elle King schmettert ein "Hallelujah". Wer jetzt an die braven Gospel-Beiträge von Carrie Underwood oder Veteranin Reba McEntire denkt, liegt - natürlich! - völlig falsch. Ihr Ausflug ins spirituelle Fach entfaltet rebellisches Feuer, southern-rockigen Drive und Country-Power.
Von Song Nummer vier hätte man eigentlich eine weitere musikalische Glanztat erwartet. Schließlich präsentiert sie auf "Drunk (And I Don't Wanna Go Home)" keine Geringere als Miranda Lambert als Duett-Partnerin. Doch: leider Fehlanzeige. Die beiden Damen haben bei dem Track, der Name deutet das schon an, offenbar keine Lust auf musikalischen Tiefgang, sondern Bock auf Party und Spaß - und den beschert der eher konventionelle, rhythmisch, aber interessante Country-Pop-Kracher auch allemal. Vermutlich wurde hier, das ist legitim, auf den kommerziellen Erfolg geschielt.
Der könnte sich aber auch für so manch weiteren Song von "Come Get Your Wife" einstellen. Zum Beispiel für den anfangs sehr verhaltenen, später sehr druckvollen Folk-Pop-Song "Lucky" oder für das absolut hittaugliche Duett mit Dierks Bentley - "Worth a Shot". Letzterer Track lebt von seinen Gegensätzen: Von Roots-Country-Klängen und geschliffenem Country-Pop-Sound, von der Glockenklaren Stimme Elle Kings und dem brummigen Westmann-Bariton Bentleys, vom großen Dynamikumfang, von ganz, ganz leise, bis ganz, ganz laut. Weil die beiden dazu eine herrliche Ohrwurm-Melodie im Refrain schmettern, hat der Titel sicher gute Hitchancen.
Elle King vereint Country-Roots-Feeling mit den Vibes der Großstadt
Nach dem würzig-bluesigen Country-Rock von "Tulsa" schlägt Elle King im letzten Drittel der CD noch einmal wesentlich traditioneller Töne an. Von der eher braven Alison Krauss ist sie aber so weit entfernt wie Los Angeles von Nashville. Das liegt zum einen an den weit mehr im Pop angelegten Gesangsmelodien, vor allem aber an der Art ihrer Interpretation. Selbst in Old-School-Country-Songs wie "Bonafide" und "Blacked Out" schwingt der Spirit von heute, der Puls der Großstadt mit. Großartige Nummern!
Das gilt freilich auch für die beiden Rausschmeißer: für den wuchtig hemdsärmeligen Country-Blues "Out Yonder" und für die superlangsame Soul-Ballade "Love Go By". Ein Song, an dem Elle King stimmlich glatt an Janis Joplin und musikalisch wahlweise an Chris Stapleton oder Otis Redding erinnert. Ein exzellenter Abschluss für ein Top-Album. Congrats!
Fazit: Auf ihrem dritten Studio-Album "Come Get Your Wife" gelingt Elle King - erneut - der große Wurf: erstklassiger, moderner, dennoch nicht zu glatter Mainstream-Country, erstklassig und stimmgewaltig interpretiert. Zwei Daumen hoch!