Oder hätte sich jemand vorstellen können, dass Anderson East einen Disco-tauglichen, ganz in der Manier von Bruno Mars oder Pharrell Williams angelegten Song abliefert und dazu noch mit Kopfstimme à la Bee Gees singt? Wohl kaum wer. Nun, aber genauso ist es. Wer's nicht glauben will muss "Drugs" reinhören. Mehr Überraschung geht kaum. Und: Es ist beileibe nicht die einzige von "Maybe We Never Die".
Mehr Überraschung geht kaum: "Maybe We Never Die"
Andererseits war Anderson East in seiner mittlerweile zwölf Jahre andauernden Karriere nie ein Künstler, der sich auf einen bestimmten Sound festlegen wollte. Klar, der aus Athens, Alabama, geborene Musiker bringt jede Menge Country-Feeling mit. Er hat die Roots des Genres in seiner DNA. Aber eben auch die Klänge und Rhythmen von Soul, R&B, Southern Soul, Blues- und Roots-Rock. Das Schöne und Außergewöhnliche an ihm war und ist: egal auf welcher musikalischen Hochzeit er gerade tanzt - er gibt immer eine klasse Figur ab.
Nashville hat der schmächtige Sänger, zu dem diese Urgewalt-Soul-Stimme nicht so recht passen will, bisher noch nicht erobert. Zumindest nicht den Mainstream der Stadt, die Radios, die Music Row, die Medien. "Deliah", sein 2015 erschienenes Album konnte sich dafür weit vorne in den US Folk und US Heat-Charts platzieren. "Encore" aus dem Jahr 2018 kletterte immerhin bis auf Rang drei der Folk- und auf Platz fünf der Rock-Charts. Man sieht: Seine Fangemeinde ist durchaus ambivalent. Gut für ihn!
So musste er sich von keiner Hörergruppe vereinnahmen lassen; so ist er musikalisch ungebunden und kann letztendlich mit seinen musikalischen Experimenten niemanden enttäuschen. Im Gegenteil: Man erwartet das Unvorhergesehene sogar zu einem guten Teil von ihm. Somit löst er mit "Maybe We Never Die" dann doch eine Erwartung ein. Aber eben so ganz auf seine eigene Art.
So viel vorab: Wenn Nashville das Epizentrum der Country Music ist, was wäre dann der maximal weitest entfernte Ort von diesen Klängen? Asien? die Südsee? der Nordpol? der Mond? Wer die zwölf Titel von "Maybe We Never Die" hört, denkt jedenfalls eher nicht an die Tennessee-Metropole. Ganz und gar nicht. Mit seinem neuen Album hat sich Anderson East, das muss man ganz klar sagen, maximal weit von der Roots-Musik entfernt. Gut, immer wieder blitzen, wie bei "Madelyn" und "If You Really Love Me", Retro-Soul-Klänge auf, die, mit Good-Will, an Marvin Gaye oder Al Green denken lassen. Und gelegentlich schimmern traditionelle Jazz-Akzente durch, wie beispielsweise in dem mit Bläsern und Querflöte auf Vintage-Sound getrimmten "Lights On". Wer will, kann diese beiden Songs dem Sammelbecken "Americana" zuschreiben. Zwingend ist das aber nicht. Dafür sind sie - sowie alle anderen Songs - zu sehr auf hip gepolt.
Anderson East ist derzeit sehr weit weg von Nashville
"Maybe We Never Die" erweist sich als zwölfteiliges Überraschungspaket. Jeder Titel beschert ein weiteres neues Aha!-Erlebnis. Zum Beispiel: der Titeltrack und Opener, eine soulige, extrem langsame Ballade mit angesagten Sounds, Kopfstimme, Geigen und dazu eine ausgeflippte Orgel zum Outro. Oder das erwähnte "Drugs". Schon der Titel sollte im braven Nashville als pure Provokation gelten. Oder "I Hate You". Ein rabenschwarzer Popsong, der an einen depressiven Bono von U2 denken lässt. Oder - es geht noch krasser - "Hood of my Car". In dem ruhigen Song zitiert der stets großartige Sänger mit E-Drums und sphärischen Keyboard-Klängen die synthetischen 80er-Jahre. Depeche Mode-Fans werden den Track lieben.
Wenn ein Album Rückschlüsse auf das Befinden eines Künstlers zulässt, dann, das muss man feststellen, durchlebt Anderson East gerade nicht seine beste Zeit. Nahezu über jedem Song schwebt eine dunkle Moll-Wolke, die sich öfters in fatalistischen Songtiteln, wie "Falling", "Like Nothing Ever Happened", spiegelt. Aber wir wissen: Leidende Künstler sind oft auch die besten. Ob man das auch für Andeson East mit "Maybe We Never Die" bescheinigen darf, ist freilich Geschmackssache. Country- und Americana-Fans werden das jedenfalls bezweifeln.
Fest steht aber, dass sich der schmächtige Kerl in einigen Tracks die oft zitierte Seele aus dem Leib singt. Man nehme nur "Interstellar Outer Space", den letzten Titel des Song-Dutzends. In die Ballade legt er alles rein, was er zu bieten hat. Ach ja, "Outer Space"... das ist nun tatsächlich sehr weit von Nashville entfernt.
Fazit: Auf seinem fünften Album "Maybe We Never Die" gelingt Anderson East erneut die Überraschung mit höchst ungewöhnlichen Songs und Sounds. Dass Retro-Papst Dave Cobb hier mit von der Partie war, ist kaum zu glauben.
Label: Elektra (Warner) | VÖ: 20. August 2021 |
01 | Maybe We Never Die |
02 | Lights On |
03 | Madelyn |
04 | Drugs |
05 | I Hate You |
06 | Hood of My Car |
07 | Falling |
08 | Jet Black Pontiac |
09 | Like Nothing Ever Happened |
10 | If You Really Love Me |
11 | Just You & I |
12 | Interstellar Outer Space |