Jeder weiß, dass Josephine Baker in Paris zur Jahrhundert-Ikone aufstieg, auch das Wirken von Schriftsteller Henry Miller oder Schauspielerin Jean Seberg ist untrennbar mit dieser Stadt verbunden. Aber die Liste der Paris-Liebhaber ist viel, viel länger: Der einstige US-Präsident Benjamin Franklin und auch Thomas Jefferson, einer der Gründungsväter der USA, lebten an der Seine. Und selbst so uramerikanische Schriftsteller wie James Fenimore Cooper ("Lederstrumpf"-Erzählungen) oder Mark Twain ("Die Abenteuer des Tom Sawyer") zog es für längere Zeit in die Kneipen und Bars des Künstlerviertels Montmartre am Fuße der alles überstrahlenden Basilika du Sacré-CÅ“ur.
Hochfliegende Hoffnungen
Einer der ersten Lieder, die in Paris entstanden, war das eindringliche "Hopes Too High", das unschwer autobiographische Züge trägt, handelt es doch von der ernüchternden Erfahrung, wenn sich hochfliegende Hoffnungen nicht erfüllen. "Das passiert andauernd", meint Tift Merritt, im Gespräch mit CountryMusicNews.de,zunächst ein bisschen ausweichend. "Als ich heute morgen in meinem Koffer nach frischen Klamotten suchte, musste ich feststellen, dass meine Hoffnungen zu groß waren", setzt sie lachend hinzu. "Aber natürlich hat der Song auch eine tiefere Bedeutung. Ich hatte die Nase gestrichen voll vom Touren, war total ausgebrannt und wusste nicht so recht, wie es bei mir weiter gehen sollte. Ich war mir nicht mal mehr sicher, ob ich weiter Musik machen wollte. Es gab sogar Momente, in denen ich dachte, ich sei eine miserable Songschreiberin."
Kurzum, ihr Selbstvertrauen war auf dem Nullpunkt. Da wirkte sicher auch der überraschende Rauswurf bei ihrem damaligen Label Lost Highway nach, das sie trotz der Grammy-Nominierung für "Tambourine" vor die Tür setzte. "Das kam wie aus heiterem Himmel. Und natürlich war ich erstmal einigermaßen schockiert. Aber das Leben muss weitergehen." - Die Frage war nur, wie? Tift Merritt nahm erstmal das Live-Album "Home Is Loud" auf und gab danach unablässig Konzerte. Damit bewies sie sich, dass sie auch ohne ein namhaftes Label im Rücken überleben konnte.
Prozess der Selbstfindung
Aber ständig "on the road" zu sein, ist auf Dauer sehr zermürbend. Die Auszeit in Paris war deshalb auch verbunden mit einem Prozess der Selbstfindung. "Ich bin jetzt 33 und irgendwann muss man sich mit der Frage konfrontieren, was man mit seinem Leben anstellen will, denn bisher lief es nicht unbedingt so, wie ich es erwartet hatte. Das ist eine schwierige Entscheidung, aber man kann nicht davor weglaufen. Ich glaube, dass nichts ohne Grund geschieht. Und wenn man es einmal geschafft hat, eine scheinbar ausweglose Situation zu überwinden, gibt das nicht nur Kraft sondern auch eine bestimmte Gewissheit, andere schwierige Situationen im Leben meistern zu können."
Das melodisch wunderschöne und textlich so bittersüße "Broken" thematisiert diese Auseinandersetzung mit übermächtig erscheinenden Problemen. "Now, you´re broken, and you don´t understand what is broken" ("Jetzt bist du am Boden zerstört, und weißt nicht mal, was eigentlich im Eimer ist") singt Tift Merritt im ebenso eingängigen wie doppelbödigen Refrain. "Der Song reflektiert das Spannungsfeld zwischen dem Gefühl, am Boden zerstört zu sein und einer fast trotzigen Hoffnung, dass man sich doch wieder aufrappeln wird."
"Broken" ist ein Beispiel, wie sehr sich die Songschreiberin Tift Merritt seit "Tambourine" weiter entwickelt hat. Dieser zwischen Americana- und Country-Rock angesiedelte Song hat alles, was einen Klassiker auszeichnet: Eine grandiose Melodie, die sich unwillkürlich in die Gehörgänge bohrt, einen Metapher-reichen und sich dennoch sofort erschließenden Text und nicht zuletzt einen ebenso innigen wie berührenden Gesang. Eigentlich müsste "Broken" auf allen Radio-Stationen dieser Welt in Dauerrotation laufen, denn einen so stimmigen und überzeugenden "Popsong" im besten Sinn des Wortes findet man selten.
Uramerikanische Tugenden
Songs wie "Broken", das eingangs erwähnte "Hopes Too High", das schwungvolle "Something To Me" oder das introvertierte und tief berührende "Keep You Happy" sind nicht nur grandiose Visitenkarten einer gestandenen Künstlerin, sie zeichnen sich auch durch eine Bodenständigkeit und Wärme aus, die bei aller stilistischen Vielfalt zwischen Pop, Country, Americana und einer Prise Gospel und Soul die tiefe Verbundenheit von Tift Merritt zu ihrer Heimat North Carolina erlebbar werden lassen. Mitunter hat man fast das Gefühl, die Prärie ´riechen´ zu können, den Staub der Feldwege, den frischen Duft des Präriegrases und den erdigen Schweißgeruch ausgerittener Pferde. "Mein Verhältnis zu North Carolina ist felsenfest", stimmt Tift Merritt zu. "Ich glaube, dass ich dort gelernt habe, Geschichten zu erzählen - Geschichten, die von einfachen Menschen handeln, von den Problemen, Wünschen und Hoffnungen, mit denen sie sich auseinander setzen. Es stimmt, es gibt eine - wie soll ich sagen? - eine Erdigkeit in meinen Songs, deren Wurzeln ganz klar in meiner Heimat liegen."
Die Zeit in Paris hat - wegen oder trotz der Ferne von ihrer Heimat und der damit verbundenen zeitweisen "Emigration" - dazu geführt, dass Tift Merritt mit "Another Country" ein uramerikanisches Album vorgelegt hat, dessen musikalischer Gestus klar von Country- und Singer/Songwriter-Traditionen geprägt ist, dass sich aber auch die Freiheit nimmt, diese Traditionen in einen ebenso zeitgemäßen, oder besser: zeitlosen und sehr individuell ausgeformten Kontext zu stellen. Tift Merritt hat "große Probleme mit dem glatt polierten Nashville-Country-Pop", wie sie es erklärt, aber sie sieht sich durchaus in der Tradition der großen Geschichten-Erzähler wie Hank Williams, Johnny Cash oder Lucinda Williams. "Die melodische Klasse und die textliche Genauigkeit ihrer Songs, die wirkliche Geschichten erzählen, haben mir immer imponiert."