Mit "Snipe Hunter" führt Tyler Childers seinen ungewöhnlichen musikalischen Weg fort
Seit sein mittlerweile klassisches Album "Purgatory" aus dem Jahr 2017 ihn zu einem Star machte, den die Appalachen ihr Eigen nennen können, hat es sich Tyler Childers zur Aufgabe gemacht, neu zu definieren, was das bedeutet. Ja, sein Vater arbeitete in der Kohleindustrie. Ja, er wuchs in einem Wohnwagen neben einer Baptistenkirche auf und ja, er spielt die Fiddle, als würde er Bootlegger bei einem Wagenrennen musikalisch begleiten. Er war aber auch einer der wenigen Country-Stars, die sich 2020 für Black Lives Matter einsetzten. Zwei Jahre später nahm er ein Gospel-Album auf, das die Harmonie zwischen den Religionen predigte und vor kurzem veröffentlichte er als erster Country-Künstler eines Major-Labels ein Musikvideo, das eine schwule Liebesgeschichte zeigt.
"Snipe Hunter" ist ein angehm schräges Album
Seit Jahren gibt Tyler Childers Statements ab und sieht sich mit seiner "Legitimität" als Country-Musiker von Presse und Fans hin und her geschoben. Seine Musik wurde nie von äußeren Einflüssen beeinflusst, aber seine Veröffentlichungen waren sorgfältig verpackt und in ihrem Umfang begrenzt. "Long Violent History" ist ein reines Fiddle-Album; "Can I Take My Hounds to Heaven?" ist seine Interpretation von Gospel; "Rustin’ in the Rain" ist von Elvis inspiriert. Auf "Snipe Hunter" hingegen lässt er alles offen und verbindet Vintage-Balladen, Rockabilly und Psychedelia mit neuer künstlerischer Freiheit. Es ist sein bisher freigeistigstes und angenehm schrägstes Album.
Vielleicht war es die magische Hand von Produzent Rick Rubin oder die Ruhe der Aufnahmen in Hawaii und Malibu, die Tyler Childers dazu veranlassten, sich zu entspannen. Wie dem auch sei, "Snipe Hunter" offenbart seine Eigenheiten und bleibt dabei den Traditionen treu, die ihn geprägt haben. Es gibt einen Southern-Rock-Kracher, der wie eine bevorstehende Panikattacke klingt ("Snipe Hunt"), einen Ragtime-Stomp über die Person, die Childers als Erstes beißen würde, wenn er Tollwut hätte ("Bitin' List") und zwei Tracks am Ende ("Tirtha Yarti", "Tomcat and a Dandy"), die seine Bewunderung für den Hinduismus zum Ausdruck bringen und sogar einen Hare-Krishna-Gesang im Stil einer Schlacht-Hymne aus dem 19. Jahrhundert einfügen. (In einem Interview mit GQ beschrieb Childers eine kürzliche Reise nach Indien, wo er "Krishna-Anhänger" kennenlernte, deren Praxis ihm "genauso viel Kraft und Orientierung gab wie seine christliche Erziehung").
Tyler Childers macht ein typisches Tyler Childers Album
Trotz dieser experimentelleren Elemente handelt es sich immer noch um ein Tyler-Childers-Album, das auf verletzlichen Songtexten und klanglicher Rauheit basiert. Nehmen wir zum Beispiel "Eatin' Big Time", wo er wie ein verrückter, gefräßiger König finster blickt und eine grausige Schilderung davon gibt, wie er seine Beute ausweidet, um schließlich zu fragen, ob sein Publikum jemals die Gelegenheit hatte, "tausend verdammte Dollar in den Händen zu halten und auszublasen?!" Dieser chaotische, halb ironische Opener leitet über zu "Cuttin’ Teeth", einem ruhigen, von Pedal Steel geprägten Song über die Anfänge eines Country-Sängers, vermutlich Tyler Childers, der von Auftritt zu Auftritt mit einer "Bande von Versagern aus West Virginia" lebt. Er klingt wehmütig, als wäre damals alles viel einfacher gewesen.
Die ergreifendsten Tracks sind zwei Singles, "Oneida" und "Nose on the Grindstone", die den Fans aus zuvor veröffentlichten Live-Versionen bekannt sind. Beide stammen aus Childers' "Purgatory"-Ära, einer Zeit, die von Hunger und Herzschmerz geprägt war, und folgen dem reduzierten Rezept "Three Chords and the Truth" ("drei Akkorde und die Wahrheit"), das ihn berühmt gemacht hat. Die ausgefeilten, von Rick Rubin produzierten Studio-Versionen erinnern gleichzeitig an Childers' anfängliche Leidenschaft und markieren seine Entwicklung - eine Entwicklung, die sich in dem reichhaltigen Arrangement von "Getting to the Bottom" widerspiegelt, in dem er seine fast sechsjährige Abstinenz feiert, indem er sich fragt, wie betrunken seine alten Trinkkumpanen gerade sind.
Fazit: Tyler Childers ist ein Mann aus den Appalachen mit einer Vorliebe für das Geschichtenerzählen. "Snipe Hunter" ist sein erstes Album, das die Tiefe dahinter einfängt und zelebriert.









