Dass es den beiden Ausnahmekünstlern gelingt, Tiefgang mit Leichtigkeit zu verbinden, zeigte sich bereits auf ihrem letzten Album "There Is No Other" aus dem Jahr 2019. Doch wer weiß, vielleicht ist (auch) den beiden sensiblen Musikern nach diesem Seuchenjahr das leichte Händchen abhandengekommen? Ein Wunder wäre es nicht. Schließlich sind die aus North Carolina stammende Rhiannon Giddens (Ex-Carolina Chocolate Drops) und der im italienischen Turin geborene Multiinstrumentalist Francesco Turrisi in Irland, sagen wir mal, gestrandet. Auch wenn beide hier leben. Da aber seit gut einem Jahr Touren und Reisen unmöglich geworden sind, verweilen sie auf der irischen Insel nun schon weitaus länger als geplant - und leiden, wie es heißt, an Heimweh. Auch an Heimweh an das Tourleben.
Alle Facetten des Heimwehs: "They're Calling Me Home"
Gegen emotionale Herausforderungen dieses Kalibers ist niemand gefeit. Auch nicht diese zwei Stars, sind sie doch - wie wir alle - zunächst einmal ganz normale Menschen. Zum Glück aber steht den beiden Musik-Weltenbummlern ein Ventil zur Verfügung, mit dem sie Ängste, Sorgen, Wünsche und Hoffnungen kanalisieren und damit auch irgendwie verarbeiten können - die Musik. Ihre Musik. Wie es heißt, haben sich Rhiannon Giddens und Francesco Turrisi in einem Studio - untergebracht in einem kleinen Bauernhof außerhalb Dublins - eingenistet um in sechs Tagen die zwölf Songs von "They're Calling Me Home" aufzunehmen. Zum Klangbild von Minstrel-Banjo (Giddens), Akkordeon und Rahmentrommel (Turrisi) gesellen sich noch weitere Klangfarben, für die der kongolesische Gitarrist Niwel Tsumbu sowie der irische Roots-Musiker Emer Mayock an Flöte, Pfeife und Dudelsack sorgen. Ein Line-Up das alles andere als konventionellen Sound erwarten lässt.
Und das den Rahmen üblicher Folk- und Americana-Formate sprengen sollte. Tatsächlich dürfte "Worldmusic" für das Songdutzend von "They're Calling Me Home" das vielleicht bessere Label sein. Doch was soll's? Entscheidend ist nicht die Kategorie, sondern die Qualität der Musik - und die lässt natürlich erneut nichts zu wünschen übrig. Zumal sich Giddens und Turrisi für ihr neues Werk einige hübsche Traditionals ausgeguckt haben. Songs, die sie seit einigen Jahren nicht mehr gespielt hätten, die sie jetzt aber mit umso größerer Begeisterung neu interpretieren.
Titel wie: "I Shall Not Be Moved", "Black as Crow (Dearest Dear)" oder das immer wieder betörende "Waterbound". Gerade im letzten Track ist das Heimweh (vor allem von Giddens) unüberhörbar. Mit klagender Stimme singt sie die bekannten Textzeilen, die wie kaum ein anderes Traditional mit ihrer amerikanischen Heimat verbunden sind: "The chickens are crowing in the old pine tree ... way down in North Carolina ... Water bound and I can't get home ... down in North Carolina ...". Musikalisch verbreitet der Song aber puren Frohsinn: Fiddle, Akustik-Gitarre, Banjo, Trommel und ein schrubbendes Waschbrett bilden ein treibend percussives Arrangement, auf dem die Stimme von Rhiannon Giddens ihre ganze Schönheit entfalten kann. Dabei verneigen sich Giddens und Turrisi gemeinsam mit ihren Gastmusikern einerseits vor den Wurzeln dieses Lieds, andererseits laden sie es mit keltischen Einflüssen auf.
Rhiannon Giddens und Francesco Turrisi: Americana mit keltischem Touch
"Calling Me Home" ist ganz von ihrer zweiten Heimat, Irland, geprägt. Zu Flöte und einem hypnotisch tönenden Dudelsack singt sie von "my time is come to sail away" und dass sie ihre Freunde vermisst. Man kann sagen: minimaler Aufwand, maximaler Ertrag. Giddens Stimme trägt diese, von Folk-Pionierin Alice Gerrard geschriebene Heimweh-Ballade und nimmt den Hörer auf eine imaginäre Reise mit. Düsterer wird es allerdings, wenn die beiden das uralte Klagelied "Oh Death" anstimmen. Nur um einen Tick. Denn die beiden sind zur Kapitulation vor dem gruseligen Sensenmann keinesfalls gewillt. So klingt in der Endgültigkeit auch eine Portion Zuversicht auf. Das gilt auch für ihre Interpretation des unverwüstlichen Gospel-Klassikers "Amazing Grace". Hunderte Mal hat man den Song vermutlich schon gehört - aber wohl kaum wie in dieser, aufs Wesentlichste reduzierten Form.
Man könnte sagen: alles alte Weisen. Aber es sind die Songs, die untrennbar mit der Biografie von Rhiannon Giddens verbunden sind. Lieder, die sie prägten, und die sie als Kind hörte, als sie in einem kleinen Kaff bei Greensboro aufwuchs. Zu den neuen Songs der CD gehören das von Giddens komponierte "Avalon" (erneut eine Reminiszenz an ihre keltische Wahlheimat), sowie das Kinderlied "Nenna Nenna", womit Turrisi einen klingenden Gruß an seine italienische Herkunft sendet.
Fazit: Selten fanden die Folk-Traditionen des Americana, Worldmusic und keltische Klänge stimmiger zusammen als bei "They're Calling Me Home" von Rhiannon Giddens with Francesco Turrisi.