Mary Gauthier wuchs bei Adoptiveltern auf, büchste immer wieder aus, kam früh mit dem Gesetz in Konflikt. Drogen, Alkohol, Obdachlosigkeit. Das volle Programm. Wer diesem Teufelskreis entkommen kann, muss - das ist sicher - einen starken Willen und dazu eine gehörige Portion Glück haben. Mary Gauthier hatte beides und dazu die Musik.
Pure Song-Poesie: "Dark Enough to See the Stars"
Wie viel die hochtalentierte Storytellerin den Klängen und Worten zu verdanken hat, beschrieb sie höchst eindrucksvoll in ihrer hochgelobten Biografie "Saved By a Song: The Art and Healing Power of Songwriting". In der Lektüre gibt sie schonungslos ehrlich über den therapeutischen Effekt des Songschreibens Auskunft. Deshalb ist jeder einzelne ihrer Tracks nicht nur für ihr Publikum gedacht, sondern zu einem guten Teil auch für sie selbst geschrieben. Das dürfte auch für die zehn Titel ihres neuen, wundervoll zweideutig betitelten Albums "Dark Enough to See the Stars" gelten. Um es vorwegzunehmen: es ist eine Meisterleistung. Ein Album, ohne Schwächen, ohne Füllmaterial, dafür vollgepackt mit herrlich eingängigen Melodien und Texten, wie sie nur die größten Song-Schmiede und Poeten der Zunft zustande bringen.
Schon der Opener "Fall Apart World" macht dies deutlich. Ein Song, wie es schon der Titel vermuten lässt, mit nicht gerade optimistischer Message. Doch dem durchaus düsteren Inhalt stellt Mary Gauthier so wunderbar sonnige Melodien und Harmonien zur Seite, dass einem - trotz einer einstürzenden Welt - warm ums Herz wird. Wer zur Einordnung einen Vergleich braucht: eine Mischung aus Bob Dylan und Lucinda Williams. Vom großen Bob entleiht sie sich den lässig folk-rockigen Groove, die entspannte Orgel, den ganz der Folk-Tradition entliehenen Refrain-Melodie - an Miss Williams erinnert ihr gelegentlich schnoddriger, super-lässiger Vortrag.
Mary Gauthier - eine Mischung aus Dylan und Williams
Wer auf Dylan und Williams steht, wird aber auch alle weiteren Songs von "Dark Enough to See the Stars” schätzen und lieben, Hand drauf! Das gilt für die wehmütige Ballade "Amsterdam", das an The Band erinnernde Liebeslied "Thank God For You" oder für die auf ein Minimum an Arrangement reduzierte Folk-Perle "Dark Enough to See the Stars", dem Titelsong. Klingt so leicht - und ist doch so schwer. Hohe Kunst also. Da bei den Songs von "Dark Enough to See the Stars" das Klavier eine zentrale Rolle im Sound-Konzept ausmacht, fallen die meisten etwas gefälliger, etwas Billy-Joel-mäßiger aus. Ein Nachteil ist das keineswegs. Denn die rauhkelige Sängerin kann sich das Liebliche locker leisten.
Ein Highlight des Albums setzt "Truckers and Troubadours". Ein Song, der nicht nur wegen der Mundharmonika im Intro schon fast schmerzlich an Neil Youngs "After The Goldrush"- und "Harvest"-Phase appelliert. Weitere setzen das filigrane, ganz um eine niedliche Akustik-Gitarren-Figur gestrickte "About Time", das wehmütige, sehr viel Luft zwischen den Noten lassende "Till I See You Again" und - ein Wahnsinns-Song - der melancholische, trotzdem kraftvolle Folk-Rock von "How Could You Be Gone". Ein Song, der mit seiner Moll-Akkord-Progression an Devin Dawsons "Secondhand Hurt" erinnert, zum Dahinschmelzen schön.
Fazit: Mary Gauthier gelingt mit "Dark Enough to See the Stars” ein perfektes Folk- und Americana-Album: tolle Songs, exzellente Texte, erstklassig interpretiert. Volle Punktzahl!
Label: In The Black / Thirty Tigers (Membran) | VÖ: 3. Juni 2022 |
01 | Fall Apart World |
02 | Amsterdam |
03 | Thank God for You |
04 | How Could You Be Gone |
05 | Where Are You Now |
06 | Dark Enough to See the Stars |
07 | The Meadow |
08 | Truckers and Troubadours |
09 | About Time |
10 | Till I See You Again |