Gunter Gabriel kommt an diesem Donnerstagabend im Kittel und mit einem Köfferchen auf die Bühne. In der Hand den aktuellen Playboy, der ihm eine mehrseitige Story widmete. Nicht ohne Stolz verkündet er das im Rund der Konzertmuschel auf dem Weißen Hirsch vor seinem Publikum, die ihn freudig willkommen heißen. Doch dann sieht er in der ersten Reihe den ganz offensichtlich blinden Martin Märsch und geht auf ihn zu, fängt ein Gespräch mit ihm an. Martin will einmal mit Gunter singen, am liebsten "Country Roads", das Lied, das John Denver bekannt machte. Gesagt, getan. Gabriel ist kein Mann langer Überlegungen. Spontan führt er Martin auf die Bühne, hängt sich die Gitarre um und schon geht es los. Beide singen den Country-Hit gemeinsam.
Nach diesem sympathischen "Vorprogramm" beginnt schließlich das eigentliche Programm, eine "Lesung mit Musik"- passenderweise mit "Wer einmal tief im Keller saß", ein Lied, das den Faden des Abends spinnt, und in bester Boom-Chicka-Boom-Manier daher kommt. Es ist programmatisch für den Abend und für Gabriel! Eine Einstimmung auf die kommenden zwei Stunden, die überraschend, kurzweilig und humorvoll sind. "Dieses Leben, das ich gelebt habe, möchte ich keinem Anderen zumuten." Irgendwie nimmt man ihm das ab, spätestens, als er die ersten Zeilen aus seinem Buch liest. Denn schon die erste Begegnung mit seinem "Ghostwriter" Oliver Flesch war alles andere, als erfreulich. Wahrscheinlich für beide Seiten. Gabriel bezeichnete ihn als "koksenden Spinner" und der revanchierte sich mit "verschwitzter alter Sack". Gleichstand der Worte für ein paar Minuten.
Mit "Wollen wir Musik machen? Was wollt ihr hören?", eröffnet Gabriel sein Wunschkonzert. Klar, als erstes kommt "Hey Boss ich brauch mehr Geld", ein ganz früher, vielleicht der erste Hit für den Sänger, den auch heute noch jeder kennt. Ein Bekenntnis zum "kleinen Mann", der jeden Tag fleißig seiner Arbeit nachgeht und trotzdem immer weniger im Portmonnaie hat. Gabriel singt mit sonorer, eindringlicher Stimme. Die scheint mit den Jahren auch immer besser, reifer zu klingen, voller Tiefgang und Volumen. Da ist etwas, was fesselt, da muss man zuhören.
Gabriel springt in der Zeit, wechselt zwischen Erzählungen und Musik, das Buch liegt auf dem Tisch. Mehr als ein paar Sätze liest er nie, viel zu oft schweift er ab, erzählt aus dem Erlebten heraus. Urplötzlich ist Cash ein Thema. Die Country-Ikone, die Gabriel schon in den Achtzigern kennenlernen durfte und die er auch im Jahr 2003 noch einmal zuhause in Tennessee besuchte. Damals nahm der Deutsche die größten Hits seines US-amerikanischen Gegenübers in deutscher Sprache auf. Diese letzte Begegnung- nur wenige Wochen danach starb Cash- war schicksalhaft. Dieses Album "Gabriel singt Cash", das am 19. August 2011 in einer neuen Version veröffentlicht wird - ein Vermächtnis. "Ring of Fire" erklingt und endet in deutschen Versen. Dann zitiert er einen weiteren Helden, Pete Seeger, und macht sich ebenfalls einen deutschen Reim drauf: "Dies ist mein Land". Schon 1983 bekannte sich Gabriel zu seinem Land, zu Deutschland, wurde deshalb auch oft beschimpft und in Ecken gedrängt, mit denen er nichts zu tun haben wollte. "Deutschland ist…." folgt, ein Lied, das lediglich die Schönheiten seiner Heimat beschreibt, seinerzeit aber ebenso oft missverstanden wurde.
Hinter der Lampe an seinem kleinen Tisch erzählt Gabriel wie alles begann, wie er in das Musikgeschäft kam. Er berichtet von Ralph Siegel, dem einzigen, den er damals kannte und dem er immer wieder selbstgeschriebene Lieder vorspielte. Der immer wieder sagte "Gabriel, deine Songs sind Scheiße." Aber der ihm auch Mut machte: "Schreib' neue Lieder und komm in vier Wochen wieder." Nachdem die erste Single auf dem Markt war und floppte, sagte der Produzent zu ihm "Junge, lass das Singen." Gabriel zog nach Frankfurt und promotete Platten für die CBS, dem Vorgänger von Sony, zwischen Mary Roos und Santana. Als Fahrer mit seinem Chef und einem "leichten Mädchen" auf dem Rücksitz begann Gabriels Leben im Musikgeschäft. Humorvoll berichtet er über diese Zeit, das Buch liegt fernab auf dem Tisch. Längst steht der Erzähler wieder, redet und redet. Witzig, humorvoll, die Zuhörer kleben ihm an den Lippen. Das ist Interessant, kurzweilig, der Voyeur lechzt nach mehr. Obwohl Gabriel sich an diesem Abend sehr gelöst, locker zeigt, und sich um eine beinah schon liebevolle Art die Dinge anzusprechen, bemüht, kann er doch die eine oder andere Zote nicht lassen. Wenn wir mal ehrlich sind: einige warten auch drauf. Ein Künstler, und insbesondere einer wie Gabriel, muss einfach provozieren. Er muss Ecken und Kanten aufreißen. Nichts ist schlimmer für ihn, als Glattbügelei.
Doch nun erst einmal der "30 Tonner Diesel" dran, ebenfalls ein Lied, das symptomatisch für Gabriels Weg ist. Jahrelang machte er nur Trucker-Songs. Lieder für die Leute, die mit ihren Brummis unterwegs sind, um all das zu uns zu bringen, was wir tagtäglich brauchen. Doch plötzlich wieder der Umschwung zu Cash und "Folsom Prison". Und da ist es wieder, das Boom-Chicka-Boom, der Rhythmus, den seinerzeit Luther Perkins für Johnny Cash erfand und der so typisch ist, für viele der früheren Lieder der Country-Legende. "Manchmal muss man tief in der Scheiße sitzen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, was im Leben wirklich zählt." Zehn Jahre lang hatte der heute 69jährige keine Wohnung, lebte auf dem Hinterhof einer Autowerkstatt in einem Wohnwagen. Und doch redet er heute von der "schönsten Zeit" in seinem Leben. Er hatte nichts und konnte auch nichts verlieren, die Frauen standen immer noch Schlange, weil der Typ direkt und ehrlich war. Immer. Und ein Popstar, einer der auf der Bühne steht. Alle wollten sie ein wenig von der Sonne, in der Gabriel sich immer noch bewegte, abbekommen und gingen mit ihm für ein paar Stunden oder mehr in seinen Wohnwagen. Doch es war noch nicht an der Zeit, aufzubrechen und all das hinter sich zu lassen.
"A Boy Named Sue" von Songschreiber Shel Silverstein beeindruckte den Sänger. Bei Gabriel wurde es zu "Ein Junge namens Susi".Diese Storysongs, die kleine Geschichten aus dem Leben erzählten, alltägliches, das jedem einmal passieren kann, das ist es, was er daraufhin für sich adaptiert. Und er schreibt selbst Lieder, die vom Leben berichten, in denen sich jeder erkennt. Er macht sich wie sein großes Vorbild Johnny Cash stark für die, die kaum Rechte haben oder rund um die Uhr malochen müssen, um ihre Familie durchzubringen. Oder er schreibt über seinen "Lieblingszeitvertreib", die Frauen. Nebenschauplatz seines Auftritts sind Gabriels verbale Sticheleien gegen seinen langjährigen Gitarristen Petr Rehak. Die relativiert er aber schnell, indem er immer wieder Applaus für Petr vom Publikum einfordert. Wie schon erwähnt: Provokationen müssen sein und Gabriel ist wahrlich ein Meister darin. An diesem Abend aber kaum unterhalb der Gürtellinie. Vielleicht hat auch er etwas gelernt …
"Jetzt erzähle ich euch, wie ich in die Irrenanstalt kam". Das Publikum hängt an seinen Lippen, will unbedingt alles erfahren. In den 1990ern lieferte er sich (nicht nur) eine Autojagd mit seiner damaligen Freundin. Um der Verfolgung durch die Polizei zu entgehen, ging Gabriel freiwillig in die Irrenanstalt und der Plan ging auf. Allerdings gab es dort neue Erlebnisse, mit denen er nicht rechnete. Im Buch steht mehr darüber. Aber: "Es war nicht alles schlecht was früher einmal gut war": die Autos fuhren 100, Tempolimit gab es nicht, der Liter Benzin kostete 35 Pfennig, es gab kein Ozonloch, Sonntags war die Kirche voll, die Kinder gingen gern in die Schule ohne Groll, die Zeiten waren rosig, Arbeit war für alle da …
Dann holt Gunter Gabriel seine "Deutschland-Gitarre" hervor und den blinden Martin aus der ersten Reihe noch einmal auf die Bühne. Wie versprochen, singen die beiden "Komm unter meine Decke" und auch "Hoch auf dem gelben Wagen". Und auf einmal reißt Martin die Fäden des Gesangs an sich, traut sich immer mehr und seine Stimme rückt nach vorn. Eine Begeisterungswelle erfasst das Publikum, denn Martin kann was! Auf einmal gehört ihm die Bühne und Gabriels Gitarre. Das Lied, so stellt sich später heraus, ist eine Improvisation, die ihm just in diesem Moment in den Kopf kam und die bleibende Eindrücke hinterlässt. Gabriel ist davon so begeistert, dass er ihm eine Gitarre verspricht, die er noch am selben Abend nach dem Konzert überreicht. Der mittellose Musiker mit klassischer Gesangsausbildung ist ebenso begeistert und kann es kaum fassen, dass er heute Abend mit dem Countrysänger auf einer Bühne stand.
Dann zieht Gabriel die Reißleine, nur bis 22:00 Uhr darf hier auf dem Konzertplatz Musik erschallen und so befindet er: "Den Rest müsst ihr selber aus dem Buch rausfummeln. Wir machen lieber noch etwas Musik." Am Ende des Abends kehrt er zu seinen Wurzeln zurück, dahin, wo alles begann: mit Elvis und seinem "Can't Help Falling In Love".
Einige wenige Male wird Gunter Gabriel mit seiner Lesung noch zu hören und zu sehen sein. Wer ihn einmal in der Rolle seines Vorbilds Johnny Cash sehen möchte, sollte ab Mitte August nach Hamburg, ins Altonaer Theater, fahren, dort steht der Country-Musiker mit Helen Schneider in Volker Kühns Musical "Hello I"m Johnny Cash" auf der Bühne. Die Termine finden Sie in unserem Terminkalender.