Im ersten Augenblick wirken diese Zahlen durchaus bewundernswert und beachtlich, jedoch unterscheiden sie sich bei genauerem Hinsehen grundsätzlich und es kann beim Leser durchaus die Frage aufkommen, ob die Charts in diesem Fall, jeweils die gleiche Leistung, gleich gut bewerten oder beschreiben. Warum?
Das Problem mit den Streamingzahlen
Um die ganze Situation ansatzweise verstehen zu können schaut man sich die Zahlen etwas genauer an. Die aktuelle Nr. 1 der Billboard 200 ist unangefochten und in seiner zweiten Woche in Folge das Album "Dangerous: The Double Album" von Morgan Wallen. Wieso steht das Album ganz oben in den Charts? Eben wegen der durch die Decke steigenden Streamingzahlen. In der ersten Chartwoche erreichte das Album 265.000 "album-equivalent units", damit wird versucht, Streamingaufrufe in Albumkäufe umzurechnen und 1.500 Premium-Aufrufe entsprechen einem Verkauf. Tatsächlich und klassisch verkauft wurde das Album 74.000 Mal. In Woche zwei sanken diese Zahlen bereits auf 159.000 "album-equivalent units" und nur noch 22.000 tatsächlich verkaufte Tonträger.
Zuletzt gelang ein solcher Erfolg wie nun "Dangerous" den Alben "Traveller" und "Kill the Lights" von Chris Stapleton und Luke Bryan. Wenn auch die Chartplatzierungen dieser beiden Alben bereits im Jahre 2015 von statten gingen, ergeben sich signifikante Unterschiede, welche zum Nachdenken anregen. Am Beispiel von "Traveller" muss man einige Zahlen daher kritisch beäugen. In Woche eins auf dem Top-Chart-Platz verkauften sich 153.000 Tonträger, und zwar tatsächliche Verkäufe. In Woche zwei waren es noch 97.000 Verkäufe und somit überschatten diese Werte den reinen Verkaufserfolg von "Dangerous" um Längen.
Ein ähnliches Bild zeigt sich, wenn man das aktuelle Top-Chart-Album mit dem angesprochenen Album "Kill the Lights" von Luke Bryan vergleicht. Hier wird der mittlerweile eklatante Unterschied sogar noch deutlicher, da "Kill the Lights" in der ersten Woche 345.000 "album-equivalent units" verkaufte, wobei 320.000 davon tatsächliche Verkäufe waren. Zwar verringerten sich die Verkäufe in Woche zwei auf knapp ein Drittel der in Woche eins erreichten Werte, es reichte jedoch trotzdem für weitere sieben Tage an der Spitze der Billboard 200-Charts.
Das Problem wird also darin deutlich, dass sich das Hörverhalten so sehr geändert hat, dass die Industrie auf andere Kennzahlen mehr Wert legt als zuvor. Nun muss das an dieser Stelle nicht schlecht sein, doch konnte man vor einigen Jahren, als die Charts noch von tatsächlich Verkaufen bestimmt wurden, diesen Wert deutlich schwerer beeinflussen als beispielsweise die Streamingzahlen. Als Musikfan war es mit den Charts bisher relativ einfach: Album X hat Y Verkäufe und steht daher über Album Z, weil dieses eben weniger Verkäufe hat. Wenn aber nun Album Z eigentlich deutlich mehr Alben verkaufen konnte, jedoch Album X einen großen Deal mit einem Streamingpartner hat, daher millionenfach geklickt wurde und am Ende, der Berechnung zufolge auf Platz 1 der Charts landet, kann man dies schon als fraglich bezeichnen.
Doch nicht nur Streamingzahlen können für einen Chart-Erfolg für ein Album sorgen. Bei "Traveller" konnte dies bestens beobachtet werden, denn das Album wurde bereits am 5. Mai 2015 veröffentlich, fand jedoch erst durch die Live-Performance von Chris Stapleton mit Justin Timberlake bei den 2015 Country Music Awards den Weg in die Öffentlichkeit und auf Platz eins der Billboard 200. Dieser Auftritt bereitete Stapleton den Weg in eine rosige und erfolgreiche Zukunft und im Jahr darauf sollte er einiges an Preisen mit "Traveller" abräumen. Genauer gewann er bereits 2015 die Album des Jahres-Auszeichnung der Country Music Association (CMA), 2016 folgte der Bestes Country Album-Award bei den Grammy Awards, die Album des Jahres-Auszeichnung bei den Academy of Country Music Awards, der Top Country Album-Award bei den Billboard Music Awards und viele weitere Nominierungen bei verschiedenen Preisverleihungen.
Entgegen diesem bahnbrechenden Erfolg für "Traveller" gab es für "Kill the Lights" in der Folge der Nr.1-Chart-Platzierung über zwei Wochen keinerlei nennenswerte Preise oder Awards. Wenn er auch von der Recording Industry Association of America mit Doppel- Platin zertifizierte wurde. Somit sprechen die Verkaufs-, Streaming-, und Chartplatzierungszahlen jeweils eine komplett eigenen Sprache und lassen sich weder sinnvoll vergleichen, noch lassen sie Schlüsse zu, wo es mit dem neuen Album "Dangerous: The Double Album" hingeht.
Für die im März stattfindenden Grammy Awards und die im April stattfindenden Academy of Country Music Awards ist das Album nicht teilnahmeberechtigt und so müssen sich Fans noch bis zu den CMA Awards im November 2021 gedulden, um herauszufinden wie die Musikindustrie das Album wirklich findet.