Trotzdem fiel es Lady Antebellum und Kear am Ende nicht allzu schwer, zu entscheiden, dass diese Zeile einfach zum Song gehört. "Wir wollten nur ehrlich zu uns selbst sein" sagt Dave Haywood. "Ich meine, wer von uns kennt das nicht aus eigener Erfahrung? Es ist spät in der Nacht und du hast einen oder zwei Drinks zuviel getrunken und denkst voller Sehnsucht an jemanden. Wir wollen da gar nicht mehr hinein interpretieren. Wir dachten uns einfach, 'Weißt du was? Wir schreiben jetzt einfach mal das, was wir als ehrlich und wahr empfinden'. Und da jeder von uns in der Realität schon einmal in so einer Situation war, fiel es uns nicht sonderlich schwer."
Die Entscheidung erwies sich als richtig. Die Verantwortlichen bei Capitol Records Nashville überraschten die Band, denn sie gaben dem Song nicht nur sofort ihr OK, sondern entschieden außerdem, dass er die erste Single-Auskopplung und Titelsong des Albums "Need You Now" sein sollte. Er verbrachte geschlagene vier Wochen auf Platz 1 der Country Aircheck Singles Chart, logierte ununterbrochen weitere fünf Wochen an der Spitze der Billboard Hot Country Songs Charts und erlangte kurz vor Weihnachten den Platin-Verkaufsstatus als Digital-Single - alles beste Voraussetzungen für einen spektakulären Albumstart im Januar 2010, wo "Need You Now" mit 480.922 verkauften Scheiben an der Spitze der Charts Premiere feierte, und zwar mit beträchtlichem Vorsprung vor dem mit verschiedenen Künstlern aufgenommenen Album "Help for Haiti", das weniger als halb so oft verkauft wurde und weit vor den weiteren Platzierten Lady Gaga, Susan Boyle und Barry Manilow. Nach ihrer zweiten Woche in den Billboard Top 200 Charts (alle Genre) wurde die Gruppe der erste Country Act seit den Dixie Chicks 2006 mit einem solchen formatübergreifenden Programm - und gehörten, zusammen mit Susan Boyle, Eminem, Jay-Z und einigen wenigen anderen, zur exklusiven Gruppe von nur sechs Künstlern, die dies im vergangenen Jahr geschafft hatten.
Radiostationen und Publikum nahmen den Song überaus positiv auf - sowohl seine Botschaft als auch den eingängigen Refrain und den kraftvollen Gesang von Kelley, Haywood und Hillary Scott. Radio-Programmgestalter Charlie Cook, Vizepräsident von Country, McVay Media, benutzt "Need You Now", einschließlich der Zeile "I'm a little drunk", sogar als Klingelton und als Warteschleifenmusik für Anrufer auf seinem Handy.
"Viertel nach eins in der Nacht sitzt der Kerl da, schmachtet nach seiner Freundin und hat sich einen angetrunken" amüsiert sich Cook. "Ziemlich gutes Futter für Country Music, finde ich". Und mit Blick auf den Eindruck, den Lady Antebellum mit diesem Titel bei seinem Publikum hinterlassen hat, meint Cook "Sie sind ihren Grundsätzen treu. Sie denken viel nach und machen es sich nicht leicht, jedoch nicht wegen ihrer Erfahrung, sondern viel mehr wegen ihres Publikums, und deswegen haben sie gesagt, 'Wir müssen uns einfach an das halten, woran wir glauben.' Und genau das hat funktioniert. Dadurch schafften sie mit Leichtigkeit diese enge Verbindung zu ihrem Publikum."
"Leichtigkeit" ist allerdings nicht das richtige Wort, um den Alltag der Gruppe Lady Antebellum in diesen Tagen zu beschreiben. "Hektik" wäre wahrscheinlich treffender, und genau so wollen sie es eigentlich haben. Nach ihrer Wahl 2008 zum "CMA Newcomer des Jahres" und mit den Siegerplätzen in den Kategorien "Gesangsgruppe" und "Single" bei den CMA Awards 2009, starteten sie eine massive Promotion für den im Januar 2010 vorgesehenen US-Start ihres Albums "Need You Now", durften eine hochkarätige Einlage bei den Grammy Awards beisteuern und gingen dann ab Februar als Vorgruppe mit Tim McGraw auf dessen "Southern Voice" Tour. Als sie ihren ersten Star-Auftritt im Ryman Auditorium in Nashville ankündigten, wunderte es niemanden, dass die Tickets so schnell vergriffen waren, dass die Band sofort eine zweite Vorstellung hinterher schieben musste, die wie die erste in weniger als einer halben Stunde ausverkauft war.
Lady Antebellum baute seinen beeindruckenden Status sehr sorgfältig auf, nach Lektionen, die sie insbesondere zum Thema Interaktion mit Fans in jenen zwei Jahren nach Erscheinen ihres ersten, den Namen der Gruppe tragenden, Platin-Albums gelernt hatten. Ein großer Teil des Jahres 2009 wurde mit Kenny Chesneys "Sun City Carnival" Tour verbracht, unter anderem mit über 10 Großauftritten in Riesenstadien. Bei diesen Mega-Shows traten sie unter Bedingungen auf, die alles andere als typisch für normale Gigs sind, zum Beispiel in hellstem Sonnenlicht, bei voller Mittagshitze mit schweißtreibenden Temperaturen. Die Fans reagierten positiv, aber die Band bekam durchaus mit, dass hier und da zwischen den Songs auch mal hitzebedingte Schläfrigkeit aufkam.
Dies inspirierte sie, zusammen mit Monty Powell den schnellen und hellen Song "Stars Tonight" für "Need You Now" zu schreiben, ein Loblied auf die Interaktion zwischen Bühnenkünstlern und ihrem Publikum. "Du musst Songs singen, die auch den Leuten auf den allerhintersten Plätzen im Stadion das Gefühl geben, sie gehören dazu" sagt Haywood, und meint damit die Intention hinter dem Mitsing-Refrain, dem lauten gemeinsamen "hey-hey!" und dem Versprechen "we’re all stars tonight".
Von Anfang an legte Lady Antebellum auf den Aufbau und die Pflege einer stabilen Fan-Basis, speziell über soziale Online-Netzwerke. Scott wurde auf Kelley und Haywood zuerst über MySpace aufmerksam; als sie sich dann entschieden, ein Trio zu werden, hatten sie durch ihre Web-Erfahrung die Möglichkeit, ihre Hörergemeinde einfach durch Weitersagen aufzubauen und zu pflegen. Wie viele andere Country-Künstler, besonders ihrer Generation, nutzen sie Twitter intensiv. Und sie haben bisher ihr Versprechen eingehalten, jeden Mittwoch neue Webisodes auf ihre Site hochzuladen, was für viele Fans Grund genug ist, sich zum gemeinsamen Viewing zu verabreden.
Eine starke persönliche Bindung zu ihren Fans ist ein Nebenprodukt dieser Bemühungen. Manchmal ist es vielleicht ein bisschen zu persönlich - "Da warten zum Beispiel Leute vor den Toiletten, weil sie dir die Hand schütteln wollen" bestätigt Scott - aber trotzdem hat es viel dabei geholfen, die Fangemeinde auch in solchen Gegenden aufzubauen, wo sie es sich am Anfang ihrer Karriere kaum vorgestellt hätten.
Wie weit ihre Ausstrahlung reicht, wurde speziell im September 2009 deutlich, als sie im Rahmen ihrer ersten Europa-Tour als Opening Act für Kenny Rogers in Gstaad, Schweiz, auftraten. Am Freitag abend kamen überwiegend Leute aus der Gegend zum Konzert, aber am Samstag trudelten Karteninhaber aus dem gesamten Kontinent ein. Die Band war besonders überrascht darüber, dass sie offensichtlich keine unbekannte Vorgruppe zu sein schienen; denn einige dieser Fans waren speziell wegen ihnen gekommen und sangen jedes Wort ihrer Songs mit.
"Das hat uns wirklich die Augen geöffnet" sagt Kelley. "Es gibt niemanden, der unsere Musik dort drüben vertreibt, aber über das Internet finden die Fans entweder einen Weg, das Album zu hören, oder sich sogar die physikalische CD zu beschaffen. Die Erkenntnis, das du mit deiner Musik so viele Menschen so weit weg erreichst, ist ganz schön aufregend."
Weit jenseits der amerikanischen Küsten erntet Lady Antebellum nun die Früchte eines Konzepts, zu dessen Schlüsselkomponenten unter anderem Online-Vernetzung und die Präsentation von Material gehören, Material das ehrlich ist und auf das man zugreifen kann.
Das ist auch einer der Gründe, warum "American Honey" als zweite Single-Auskopplung des Albums ausgewählt wurde. Geschrieben von Cary Barlowe, Hillary Lindsey und Shane Stevens, ist dieser Titel eine ruhige, romantische Träumerei, deren akustisches Gewebe mit bodenständigen Fiddle-Einlagen einen Sound ergeben, der traditioneller klingt als vieles, was heute in den Country Charts zu hören ist.
"Wir wollen die Leute schon auf Trab halten und mit den Singles, die wir herausgeben, weiter versuchen, unterschiedliche Seiten von uns zu zeigen", erläutert Scott. "Wir achten ganz bewusst darauf, dass ein neuer Titel nicht genau so klingt wie der davor".
"Sie versuchen, eine Musik zu machen, über die die Leute auch in 30 Jahren noch sprechen", fasst Paul Worley zusammen, der bei beiden Alben von Lady Antebellum Koproduzent war. "Wenn Sie einmal einen Blick zurück werfen auf unsere Einflüsse und auf die Musik, die wir lieben, werden Sie merken, dass ein großer Teil dieser Musik vor 30 oder 40 Jahren entstanden ist, und genau zu dieser Klasse von Leuten möchten sie auch gehören. Ob sie diese Stufe erreichen werden oder nicht, können wir heute noch nicht sagen, aber auf jeden Fall ist dies ihr erklärtes Ziel und man merkt es an den Themen ihrer Songs und den Sounds, mit denen sie sich umgeben. Jede Musik, die jemals auf diese Stufe geklettert ist, war immer Musik, die etwas riskiert hat und deswegen stets von totalem Misserfolg bedroht war. Aber durch Glück, vielleicht Zufall, Begabung oder wie auch immer Sie es nennen wollen, gelang der Durchbruch."
Dieses Durchbrechen einer Barriere ist deswegen auch das Thema des letzten Titels auf dem Album, ein bewegender Song, "Ready to Love Again", geschrieben von allen drei Mitgliedern der Gruppe und Michael Busbee, aber basierend auf Scotts persönlicher Erfahrung bei der Überwindung einer schmerzhaften Trennung. Bei der Überlegung, sich vielleicht auf eine neue Romanze einzulassen, gibt die Sängerin ihre Ängstlichkeit zu, denkt über "Mauern errichten" und "die Angst wie all dies wieder enden wird" nach, aber rafft sich schließlich auf und wagt einen ersten Schritt nach vorn.
Der Song kann einen emotionalen Moment in ihrem Leben zum Hintergrund haben, aber parallel dazu handelt er auch von der Unsicherheit, in der die Gruppe Lady Antebellum im Moment schwebt, als einer der herausragenden Country Music Acts. Aber anstatt sich in einen kreativen Winterschlaf zu begeben, während "Need You Now" aufsteigt, haben sie bereits entschieden, weitere Herausforderungen auf der Bühne und im Studio zu suchen. Das ist, nach ihrer Überzeugung, die zentrale Forderung, um lebendig zu bleiben.
"Du kommst an einen Punkt, an dem du keine Angst mehr vor einem Misserfolg hast" sagt Scott. "Du kannst dir keine Angst leisten, weil du ehrlich zu dem stehen musst, was dein Herz dir sagt und woran du glaubst und was du wirklich sagen willst."
